Wissenschaft Mit Habermas im Koffer durch die Welt
Frankfurt/Main (dpa) - Als "schöne, aber unheilbare Krankheit" bezeichnet René Görtzen seine Begeisterung für den Philosophen Jürgen Habermas. Jahrzehntelang trug der Niederländer aus aller Welt Bücher und Zeitschriftenartikel zusammen - auch in Sprachen, die er selbst gar nicht lesen kann.
Als sein Archiv in Amsterdam aus allen Nähten platzte, gab er seine Sammlung nach Frankfurt: 5250 Bücher und 216 Ordner mit Aufsätzen. Im Archivzentrum der Universitätsbibliothek wird die Sammlung nun für die wissenschaftliche Arbeit aufbereitet.
Jetzt hat der 69-Jährige zum ersten Mal seine Schätze an ihrem neuen Standort besucht. Auf dem Weg von Barcelona nach Amsterdam legte er einen Zwischenstopp ein. Eher ging es nicht, der Unternehmer hatte in der Dominikanischen Republik zu tun. In dem sehr in die Jahre gekommenen Gebäude an der Bockenheimer Warte besichtigt er jetzt mit dem Leiter des Archivzentrums, Mathias Jehn, die Bestände.
Das Archiv sei von großem Wert, sagt Jehn. Denn in Frankfurt lagert auch der sogenannte Vorlass des 1929 geborenen Philosophen und Soziologen, der - mit Unterbrechungen - von 1964 bis 1994 an der Goethe-Universität lehrte. 2010 überließ Habermas 16 Regalmeter Manuskripte und Briefe. Sie lagern in unscheinbaren grauen Kisten. Ergänzt werden sie durch Nachlässe von Schülern und Kollegen. Die Sammlung Görtzen sei "ein weiterer wichtiger Baustein für die umfangreiche Überlieferungsbildung von Jürgen Habermas, einem der meist zitierten Philosophen weltweit."
Das Görtzen-Archiv ist nicht gerade schick untergebracht, aber darauf kommt es ja nicht an. "Hauptsache sicher", sagt Jehn. In einem niedrigen und engen Raum hinter einer abgeschrappten Tür sind vier wandfüllende Regale mit Büchern eingezogen. In einem anderen reihen sich handbeschriftete gelbe Ordner aneinander. Auf dem Weg dazwischen stößt sich Görtzen den Kopf an einem Rohr unter der niedrigen Decke.
Görtzen lernte Habermas 1978 im berühmten Hörsaal IV der Goethe-Universität kennen. "Ich war unmittelbar beeindruckt von ihm", erinnert er sich vierzig Jahre nach seinem Studium der Pädagogik und Philosophie, das ihn für ein Jahr nach Frankfurt führte. Als ein Student eine halbe Stunde lang vor sich hinschwafelte, sei er ruhig geblieben und habe dann geistreich mit einem "philosophischen Glanzstück" geantwortet. 1982 publizierte Görtzen im Suhrkamp-Verlag eine Habermas-Bibliographie. "In dieser Zeit fing ich an, alles von ihm und über ihn in jeder Sprache zu sammeln", erzählt er.
Bei Büchern, glauben Görtzen und Jehn, ist die Sammlung nahezu vollständig. Auch alle Aufsätze hat Görtzen zunächst versucht vollständig zu sammeln, aber Mitte der 90er "wurde es einfach zu viel", wie er sagt. Er beschränkte sich auf Erstveröffentlichungen und strebte bei Übersetzungen nicht mehr nach Vollständigkeit. Auch Texte über Habermas hat er "die letzten 20 Jahre weniger systematisch gesammelt".
Trotzdem war sein Archiv 2010 schon so groß, dass er eine 70-Quadratmeter-Wohnung in der Amsterdamer Innenstadt zum Lager umfunktionierte. "Aber selbst dieser Raum wurde zu klein. Damit nahm auch die Unordnung im Archiv zu", erzählt er. Eine US-Universität war interessiert, aber Görtzen entschied sich für Frankfurt, um sein Archiv mit den Beständen aus dem Vorlass zu vereinen. Als das Archiv im Herbst 2017 von einer Kunstspedition abgeholt wurde, musste eine Fußgängerzone gesperrt werden, wie Jehn berichtet.
Auch nach dem Umzug lässt Habermas Görtzen nicht los. Er arbeitet an einer erweiterten Fassung seines Werkverzeichnisses. 2019 soll sie fertig werden und ebenfalls bei Suhrkamp erscheinen. "Eine mondiale Bibliographie" nennt Görtzen das Projekt, das schon jetzt über 600 Seiten umfasst und alle Habermas-Schriften von 1954 bis 2018 auflisten soll. "Ich hoffe, dass ich das schaffe. Es muss jetzt mal gelingen", sagt er und wirft einen letzten Blick auf seine Sammlung, die auch in Zukunft nur Wissenschaftlern, aber nicht der Allgemeinheit zur Verfügung steht.
Er habe "zwei Leben geführt", sagt Görtzen, "eines in der Wissenschaft und das andere in der Geschäftswelt". In einem Leben war er Bibliothekar in Amsterdam, in der anderen machte er Millionen "in der Immobilienbranche". Allein in Amsterdam gehört ihm eine stattliche Anzahl Häuser, gerade hat er in der Dominikanischen Republik Apartments gebaut. Dabei habe er gelernt: "Nicht Ziffern, nur Buchstaben machen mich glücklich."
Mit seiner Begeisterung würde er gerne andere anstecken - "in unserer beschädigten Welt", wie er sagt. Zumindest einmal ist ihm das gelungen. In Argentinien, erzählt er, wurde er mit einer Tasche spanischer Habermas-Ausgaben von zwei Soldaten angesprochen. Der eine forderte ihn ruppig auf, die Tasche zu öffnen, der andere nahm ein Buch heraus und begann zu lesen - "in einer Hand ein Habermas-Buch, in der anderen Hand ein Karabiner". Götzen schenkte ihm den Band.