Deutscher Zeitfahrspezialist Tony Martin ist beim Tour-Auftakt der große Favorit
Alles oder nichts. Gelb oder Frust. Traumszenario oder bittere Realität. Für Tony Martin schlägt die Stunde der Wahrheit. "Alles, was zählt, ist der Samstag", sagt der Zeitfahr-Weltmeister.
Beim Grand Départ in Düsseldorf ist das Drehbuch für ihn geschrieben: Martin soll die Wünsche der deutschen Radsport-Fans erfüllen und den ersten Tour-Auftakt in Deutschland seit 30 Jahren mit dem Sieg krönen.
14 Kilometer im Kampf gegen die Uhr, praktisch topfeben entlang des Rheinufers - es ist ein Kurs ganz nach dem Geschmack des Wahl-Schweizers. Ein bisschen länger könnte die Strecke sein, das vielleicht. Martin findet sie "sehr schön". Er denkt seit Saisonbeginn an diesen 1. Juli, hat sich akribisch vorbereitet – denn das Gelbe Trikot, das weiß er, besitzt eine ungeheure Strahlkraft. "Man ist der Mittelpunkt des Radsports, das ist ein erhabenes Gefühl", sagt Martin.
Martins Chancen auf das gelbe Trikot
Der viermalige Weltmeister hat diese besonderen Emotionen schon einmal erleben dürfen vor zwei Jahren nach seinem Husarenritt nach Cambrai in Nordfrankreich. Damals war er im Auftakt-Zeitfahren von Utrecht dem Australier Rohan Dennis unterlegen, der diesmal jedoch nicht startet. Und da auch Giro-Gesamtsieger Tom Dumoulin nicht an der Großen Schleife teilnimmt, gilt Martin ("Es fehlen zwei Granaten") als der große Favorit.
Doch es ist nicht ausgeschlossen, dass ihm die äußeren Verhältnisse, dass ihm das Wetter die Stimmung etwas verhagelt. Der 32-Jährige wird – wie seine schärfsten Konkurrenten auch - in den Stunden bis zum Start ganz penibel die Vorhersagen verfolgen. Er hofft zumindest auf gleiche Bedingungen für alle, sollte es tatsächlich den angekündigten Regen geben. "Das wäre sonst sehr schade", sagt Martin: "Das Wetter spielt ein bisschen russisch Roulette, aber ich nehme es, wie es kommt."
Ex-Skispringer könnte Martin gefährlich werden
Seine größten Rivalen haben ein nicht mit Martin zu vergleichendes Renommee, aber enormes Potenzial. Da wäre der slowenische Ex-Skispringer Primoz Roglic, der in dieser Saison seinen Durchbruch erlebt und einige bedeutende Zeitfahren gewann. Dazu kommt der Niederländer Jos van Emden, der beim Giro im Kampf gegen die Uhr triumphierte. Und da ist nicht zuletzt der Schweizer Stefan Küng, ein mit Talent gesegneter Tour-Debütant, der als legitimer Nachfolger von Doppel-Olympiasieger Fabian Cancellara gesehen wird.
Doch im Regen sind alle Prognose vielleicht ohnehin Makulatur, dann spielt auch der Faktor Glück eine entscheidende Rolle. "Das Sturzrisiko wäre enorm, wenn man um jede Sekunde kämpft", betont Martin, der auf dem Kurs durch "klein Paris", wie Düsseldorf auch genannt wird, einige heikle Stellen gesehen hat. Einige Bahnschienen, Zebrastreifen, rot eingefärbte Radwege können zur Falle werden, wenn es nass ist.
Umso wichtiger wäre das richtige Händchen bei der Startzeit, doch der taktische Spielraum von Martin ist da wohl begrenzt. "Es kann sein, dass der Veranstalter sich vorbehält, dass ich ganz hinten fahre", sagt er. Wegen der Dramaturgie, des Spannungsbogens. Dann wird Martin auch nicht so entspannt sein wie in den Tagen zuvor: "Die Nervosität wird kommen, der Druck wird kommen." Und er soll sich im Idealfall in Jubel entladen.