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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutsche Handballer bei der WM Die Erleichterung ist groß
Trotz durchwachsener Leistungen hat das DHB-Team das WM-Viertelfinale erreicht. Das Mindestziel ist geschafft – und das könnte nun alles verändern.
Aus Oslo berichtet Nils Kögler
Das Lachen von Justus Fischer und Nils Lichtlein erfüllte den ganzen Raum. Als der vorzeitige Viertelfinaleinzug der deutschen Handball-Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft bereits nach dem Sieg im zweiten Hauptrundenspiel gegen Italien feststand, konnten sich Fischer und Lichtlein voll auf ihre Qualitäten als Unterhalter konzentrieren.
In einem Instagram-Livevideo für den DHB beantworteten die beiden Jungstars Fragen der Fans – und alberten dabei fleißig und lautstark herum. Warum hasst Fischer Raclette und wie viel drückt er auf der Hantelbank? Der Kreisläufer antwortete bereitwillig. "Warum stehen hier auf einmal so viele Leute", wunderte sich Fischer nach einigen Minuten. In der Tat hatte die gute Laune der beiden Spieler dafür gesorgt, dass sich nach und nach alle im Raum um sie versammelt hatten.
Die gute Laune war durchaus neu. Denn die bisherigen Medientermine der deutschen Mannschaft waren eher von Anspannung und von Rechtfertigungen für durchwachsene sportliche Leistungen geprägt. Ernste Mienen statt Raclette-Diskussionen, Zweckoptimismus statt Gesprächen übers Bankdrücken. Die Erwartungshaltung, mit der der Olympia-Silbermedaillengewinner bei der Weltmeisterschaft umgehen musste, drückte sowohl auf die sportliche Leistung als auch auf die Stimmung. Umso mehr war die Erleichterung nach Erreichen des Mindestziels Viertelfinale förmlich zu greifen. Die Leichtigkeit ist zurück im deutschen Team – und die trug sie schon einmal zu einem großen Erfolg.
Das DHB-Team und das Zehnmeterbrett
Schon vor Beginn der Weltmeisterschaft hatten sich die DHB-Verantwortlichen im Erwartungsmanagement geübt. Noch vor dem letzten WM-Test gegen Brasilien am 11. Januar in Hamburg hatte Nationalmannschaftsmanager Benjamin Chatton eine etwas kuriose Metapher bemüht. "Es ist wie früher im Schwimmbad, wenn man da sitzt und das erste Mal vom Einer springen soll", sagte Chatton. "Vor uns sitzen aber Menschen, die eigentlich schon über den Zehner sprechen und die Siegerehrung."
Was Chatton mit seiner Metapher sagen wollte: Nach dem großen Erfolg mit der Silbermedaille bei den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr erwarten nun alle Ähnliches bei der WM. Das ist falsch.
Chattons Ausführungen waren ein frühes Beispiel dafür, was auch nach Turnierbeginn offensichtlich werden sollte: Die Nationalmannschaft war sich des zunehmenden öffentlichen Drucks schmerzhaft bewusst.
Enge Spiele trotz Favoritenrolle
Das schlug sich in der spielerischen Leistung nieder. In der Vorrunde traf die DHB-Auswahl mit Polen, der Schweiz und Tschechien auf drei Mannschaften, gegen die sie deutlich favorisiert war. Doch die Spiele reflektierten das nicht.
In allen drei Partien tat sich die deutsche Mannschaft vor allem in der ersten Halbzeit schwer. Die Partien waren allesamt eng, teilweise lief die DHB-Auswahl sogar Rückständen hinterher.
"Zuschauer haben mehr erwartet"
Zwar konnten die Deutschen alle drei Spiele am Ende gewinnen, doch bei Fans und Experten riefen die Leistungen dennoch Stirnrunzeln hervor. Ex-Weltmeister Pascal Hens sagte nach Vorrundenabschluss im Interview mit t-online (hier lesen Sie das ganze Interview): "Ich glaube, dass wir als Zuschauer ein bisschen mehr erwartet haben, aufgrund der Leistungen bei Olympia."
Da war sie wieder: Die Erwartungshaltung nach dem erfolgreichen Olympia-Turnier. Und Hens erhöhte noch mal den Druck. Der Viertelfinaleinzug sei Pflicht. "Als Silbermedaillengewinner der Olympischen Spiele muss das Viertelfinale der Anspruch sein."
Doch genau dieser Anspruch schien die deutsche Mannschaft eher zu hemmen. Das im vergangenen Sommer noch so fröhlich aufspielende Team von Bundestrainer Alfred Gislason wirkte gehemmt. In der Offensive stotterte der Motor erheblich. Vor allem die schlechte Chancenverwertung machte Gislason Kopfzerbrechen. Immer wieder spielte sich seine Mannschaft zwar gute Chancen heraus, verwarf diese aber wie am Fließband.
Hinzu kam, dass auch die sonst so starke Defensive, die Schweiz-Trainer Andy Schmid vor dem Vorrundenduell gar als "beste der Welt" bezeichnet hatte, ungewohnte Schwächen zeigte. Die Absprache stimmte häufig nicht, immer wieder ließen sich die Mannen um Kapitän Johannes Golla zu leicht auseinanderziehen und so Lücken für gegnerische Abschlüsse zu. Besonders auffällig wurde das im ersten Hauptrundenspiel gegen Dänemark, als die Weltklasse-Offensive der Gastgeber sich fast nach Belieben durch die deutsche Hintermannschaft spielte – und die zwar einkalkulierte Niederlage so mit zehn Toren Abstand ungewollt hoch ausfiel.
"Haben nicht das Maximum abrufen können"
In den übrigen Partien war es häufig überragenden Torwartleistungen von Andreas Wolff und David Späth zu verdanken, dass das DHB-Team nicht hoch in Rückstand geriet und die Spiele am Ende noch drehen konnte.
Dass die Erleichterung über den dennoch vorzeitig erreichten Viertelfinaleinzug deshalb riesig war, daraus machten die Spieler kein Geheimnis. "Wir sind alle sehr erleichtert", sprach es Jungstar Marko Grgić offen aus. "Wir hatten eine schwierige Vor- und Hauptrunde. Natürlich haben wir nicht unser Maximum abrufen können", so Grgić weiter. Deshalb sei die Mannschaft "sehr froh", das Minimalziel Viertelfinale erreicht zu haben.
Die Diskrepanz zwischen der Olympia-Form und den Auftritten bei der WM war ihm genauso bewusst wie der Grund dafür: "Was bei Olympia anders war, ist, dass wir nicht diesen Druck hatten und nicht diese Erwartung", so der 21-Jährige. Dass Deutschland Frankreich im Viertelfinale schlage, habe damals zum Beispiel keiner erwartet. "Wir hatten die Underdog-Rolle. Das hat uns sehr dabei geholfen, da einfach locker und befreit aufzuspielen", sagte Grgić. "Jetzt bei der WM sind wir Vize-Olympiasieger, und da erwartet man mehr von uns und wir erwarten auch automatisch von uns mehr. Manchmal kann das dazu führen, dass wir ein bisschen verkrampfen und zu viel wollen."
Doch der Krampf scheint nun gelöst zu sein. Denn nicht nur Fischer und Lichtlein wussten nach dem Viertelfinaleinzug zu unterhalten. Auch Bundestrainer Gislason war auf der Pressekonferenz für einen launigen Moment zu haben, als er nach einer Lobeshymne auf Lichtlein dem neben ihm sitzenden Jungstar grinsend noch zwei kräftige Schulterklopfer verpasste und ihm so die Schamesröte ins Gesicht trieb. Szenen, die noch vor wenigen Tagen nahezu undenkbar gewesen wären.
"Hoffen, dass wir lockerer werden"
Fakt ist: Will die deutsche Mannschaft in der K.-o.-Runde bestehen, muss eine Leistungssteigerung her. Die neugewonnene Lockerheit nach Erreichen des Minimalziels soll dabei helfen. "Hoffen wir mal, dass wir in den K.-o.-Spielen etwas lockerer werden", sagte auch Grgić.
Was eine gewisse Lockerheit bewirken kann, zeigte sich bereits im sportlich bedeutungslosen letzten Hauptrundenspiel gegen Tunesien am vergangenen Samstag. Erstmals im ganzen Turnier schaffte es die DHB-Auswahl, ihrer Favoritenrolle gerecht zu werden und mit dem 31:19-Erfolg einen deutlichen und nie gefährdeten Sieg einzufahren. Dabei durften sich eigentliche Stammkräfte wie Kapitän Johannes Golla, Renārs Uščins oder Julian Köster sogar ausruhen und kamen nicht zum Einsatz.
Neuanfang in Oslo
Damit das auch gegen Viertelfinalgegner Portugal klappt, soll auch der Ortswechsel von Herning nach Oslo helfen. "Ich habe ehrlich gesagt Bock auf so einen Tapetenwechsel", sagte etwa Linksaußen Lukas Mertens. "Es ist ein langes Turnier. Nach zwei Wochen hier in Dänemark freue ich mich auf Oslo." Grgić fügte an: "Ein Tapetenwechsel ist sehr gut, um noch mal einen kleinen Neuanfang zu starten." Durch den Ortswechsel werde das Team noch mal wachgerüttelt. "Jetzt sind wir in den K.-o.-Spielen, jetzt ist alles oder nichts angesagt, deswegen freuen wir uns sehr", so der Jungstar.
In den zwei verbleibenden Tagen, bis es am Mittwoch dann im Viertelfinale gegen Portugal wieder ernst wird, sollen sich dann auch die aktuell noch erkrankten Rune Dahmke, Lukas Stutzke und vor allem Spielmacher Juri Knorr wieder erholen, um dann mit voller Mannstärke höhere Ziele anvisieren zu können. "Wir werden alles auf der Platte lassen und versuchen, da ins Halbfinale einzuziehen", versprach Mertens.
Der anfängliche Druck scheint mittlerweile jedenfalls einer großen Lust gewichen zu sein. Reicht es so am Ende auch wieder für eine Medaille? "Ich sage nicht nein", gab Grgić locker grinsend zu Protokoll.
- Eigene Beobachtungen vor Ort
- Pressekonferenz mit Benjamin Chatton am 10.01.2025
- Pressekonferenz mit Alfred Gislason und Nils Lichtlein 24.01.2025
- Medientermin mit Justus Fischer, Nils Lichtlein, Lukas Mertens und Marko Grgić am 24.01.2025