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Zum journalistischen Leitbild von t-online.DHB-Kapitän Uwe Gensheimer "Unter diesen Voraussetzungen gehören wir nicht zu den Favoriten"
Am 15. Januar startet für die deutschen Handballer die WM in Ägypten. Zuvor sprach DHB-Kapitän Uwe Gensheimer im t-online-Interview über die schwierigen Turnierumstände und fehlende Leistungsträger.
Wenn die deutschen Handball-Herren am Freitag gegen Uruguay (18 Uhr, im Liveticker bei t-online) ins Rennen um den Weltmeistertitel einsteigen, liegen Wochen langwieriger Diskussionen und schleppender Vorbereitung bereits hinter ihnen. Denn das Team von Cheftrainer Alfred Gislason muss ohne eine Reihe wichtiger Leistungsträger nach Ägypten reisen, konnte vor dem Turnierstart gut eine Handvoll gemeinsamer Trainings absolvieren.
Umso stärker liegen die Hoffnungen der deutschen Handballfans auf Uwe Gensheimer. Der 34-jährige Routinier soll als Kapitän eine junge, unerfahrene Mannschaft im Laufe der WM zu einer Einheit formen, die das Zeug zum Favoritenschreck hat.
Im t-online-Interview spricht sich der Linksaußen der Rhein-Neckar Löwen trotz aller Corona-Bedenken für die WM aus und erklärt, warum das Turnier essenziell für den deutschen Handball ist.
t-online: Herr Gensheimer, Patrick Wiencek, Hendrik Pekeler, Steffen Weinhold und Finn Lemke verzichten freiwillig auf das Turnier. Wie haben Sie als Kapitän auf die Entscheidungen reagiert?
Uwe Gensheimer (34): Ich kann diese persönlichen Entscheidungen, insbesondere mit Blick auf die aktuelle Situation und die Einschränkungen für jede einzelne Familie, total nachvollziehen. Aus sportlicher Sicht finde ich es dennoch sehr schade – besonders, nachdem ich gesehen habe, mit was für starken Leistungen sich Patrick Wiencek, Hendrik Pekeler und Steffen Weinhold mit dem THW Kiel Ende Dezember den Champions-League-Titel gesichert haben. Es ist doch klar, dass wir alle am liebsten mit der schlagkräftigsten Truppe nach Ägypten reisen wollen würden. Die Situation ist nun aber so, wie sie ist, und wir als Handball-Nationalmannschaft verlieren jetzt keine Gedanken mehr an ein "Was wäre wenn"-Szenario.
Haben Sie persönlich auch an einen Verzicht gedacht?
Ich bin der Meinung, dass der Handball dieses Turnier braucht. Es ist wichtig, dass die WM stattfindet, besonders nach dem Jahr, das der Sport hinter sich hat. Es geht uns darum, wieder mittelfristig ein Millionenpublikum für den Handball zu begeistern und so neue Fans und Mitglieder in den Vereinen in Deutschland zu generieren. Der Handball in Deutschland befindet sich aktuell in einer ganz schwierigen Phase. Besonders die Vereine in den untersten Ligen kämpfen um ihre Existenz. Wir Profis spielen bei der WM also auch dafür, dass die Amateure und Mitglieder dem Sport und den Vereinen in dieser Krise treu bleiben.
Sie befürchten also eher nicht, dass die deutsche Öffentlichkeit durch die fehlenden Spieler und die fehlende Atmosphäre bei der WM das Turnier weniger aufmerksam verfolgen wird?
Ich hoffe eher, dass die Menschen die Handball-WM als willkommene Ablenkung vom aktuell schwierigen Alltag sehen und dem Sport die Chance geben, sie zu begeistern. Dafür müssen jedoch in erster Linie wir als Mannschaft sorgen, indem wir gut und geschlossen beim Turnier auftreten.
Freuen Sie sich auf die WM in Ägypten?
Wir mussten lange Zeit warten, bis wir unsere Sportart wieder ausüben durften. Auch wenn es aktuell nicht die optimalen Umstände sind, freuen wir uns darüber, dass wir als Nationalmannschaft zusammenkommen, um diese Weltmeisterschaft zu spielen.
Die Umstände des Turniers sind ganz besondere: Aufgrund der Corona-Pandemie wird es in einer Blase in Kairo ausgetragen, volle Hallen wird es nicht geben. Inwiefern wird Sie das als Profisportler beeinflussen?
Mir ist es normalerweise lieber, wenn ich in einer vollen Halle spiele. Diese Emotionen, die da von den Rängen kommen, sind es, die unseren Sport ausmachen. Wir sind es nun jedoch bereits aus der Bundesliga gewöhnt, ohne Zuschauer zu spielen. Aus diesen Geisterspielen haben wir die Erkenntnis gewonnen, dass es darauf ankommt, dass die Mannschaft noch enger zusammenwächst. Das heißt, nicht nur die Spieler auf der Platte, sondern insbesondere die Bank muss für Emotionen sorgen. Es darf nicht unterschätzt werden, wie sehr ein solch geschlossenes Auftreten ein Team zusammenschweißt.
Wie füllt Alfred Gislason seine Rolle als Bundestrainer dieser Tage aus?
Für ihn waren die vergangenen Monate alles andere als einfach. Mit den vier WM-Absagen hat sich seine Arbeit noch einmal erschwert. Wenn drei gestandene, je zwei Meter große Mittelblocker ausfallen, kann man die nicht 1:1 ersetzen. Das benötigt immense Umstellungen. Er arbeitet akribisch daran, dem vorhandenen Spielermaterial ein passendes und erfolgreiches Spielsystem an die Hand zu geben.
Welche Änderungen darf der deutsche Handballfan durch das Fehlen des Innenblocks Wiencek/Lemke/Pekeler im Spiel des DHB-Teams erwarten?
Besonders in der Deckungsarbeit wird es Änderungen geben. Wenn dein Mittelblock plötzlich statt je über zwei Meter nur je 1,90 Meter groß ist, ist das logischerweise bereits ein körperlicher Unterschied. Also werden wir aggressiver nach vorne verteidigen müssen, früher den Körperkontakt mit den gegnerischen Schützen suchen müssen. Generell werden wir versuchen, während des Spiels zwischen verschiedenen Deckungsvarianten zu wechseln, um die Aggressivität des offensiven Verteidigens so hoch wie möglich halten zu können.
Bedeutet: Trotz der Ausfälle selbstbewusst auftreten und die Flucht nach vorne suchen statt konservativ zu mauern und auf das Beste zu hoffen.
Das wäre der Optimalfall, ja.
Inwiefern sind es nun jüngere Spieler wie Timo Kastening und Johannes Golla, die mehr Verantwortung schultern werden müssen?
Johannes Golla hat in den vergangenen Partien bereits gezeigt, wie wichtig er durch seine körperliche Konstitution für die Abwehrarbeit im Block sowie die Offensive am Kreis ist. Da übernimmt er bereits sehr viel Verantwortung. Neben dieser körperlichen Komponente unseres Spiels wird es jedoch auch wichtig sein, dass die zentralen Rückraumspieler – also, die das Spiel dirigieren und den Spielzug vorgeben – sich klug mit ihren Mitspielern abstimmen. Da blicke ich besonders in Richtung Fabian Böhm, der bereits einige Länderspiele auf dem Buckel hat und sich nie vor Verantwortung scheut.
Hatten beziehungsweise haben Sie dennoch das Bedürfnis, vor diesem besonderen Turnier als Kapitän mehr Gespräche mit ihren jüngeren Teamkollegen führen zu wollen?
Meine Turniervorbereitung ist nicht gravierend anders als sonst. Es ist eher so, dass ich nach den ersten Trainingseinheiten mit Alfred Gislason vermehrt das Gespräch mit meinen Kollegen gesucht habe, weil wir dort viel neuen Input erhalten haben und ich mich in vielen Einzelgesprächen vergewissern wollte, wie die Formationen und Varianten bei der Mannschaft angekommen sind. Es ist nämlich sehr wichtig, dass wir uns vor Augen führen, dass das, was wir in der Trainingshalle eintrainiert und angewandt haben, so auch im Wettbewerb ineinandergreifen muss.
Erwarten Sie innerhalb der Vorrunde eine Entwicklung des Teams zu erkennen?
Wir befinden uns in einem laufenden Prozess, deshalb ist es ganz normal, dass es auch während des Turniers noch Anpassungen geben wird. Im Spiel hat man dann ja doch eine größere Verantwortung als im Training und fokussiert sich stärker. Diese Wachsamkeit müssen wir auf die Platte bringen, weil gerade bei einer WM leichte technische Fehler und daraus resultierende Ballverluste bitter bestraft werden.
Wie kann man solche leichten Fehler verhindern?
Alfred Gislason hat es aktuell sehr schwer: Er ist ein taktisch wahnsinnig versierter Trainer, hat für jede Spielsituation mehrere Varianten zur Hand. Doch er hatte mit uns bis zum Spiel in Österreich gerade einmal vier Trainingseinheiten. Da ist es doch klar, dass man diese Variationen nicht so einüben kann wie bei einer Vereinsmannschaft, mit der man über Wochen und Monate täglich mehrere Stunden zusammen ist. Da tut es uns vielleicht auch mal gut, uns auf die handballerischen Basics im Offensivspiel zu konzentrieren und nicht zu großes Risiko zu gehen.
Trotz einzelner Bedenken verzichtete bei der europäischen Konkurrenz kein Topstar auf die WM. Inwiefern erschwert diese Tatsache das Erlangen eines guten Ergebnisses beim Turnier?
Unter den Voraussetzungen, mit denen wir nach Ägypten reisen, gehören wir definitiv nicht zu den Topfavoriten. Wir wollen die WM in erster Linie dafür nutzen, um uns als Mannschaft weiterzuentwickeln und den für uns maximal möglichen Erfolg einzufahren.
Sie definieren also bewusst kein Ziel.
Und zwar aus den genannten Gründen. Diese Mannschaft ist neu und jung zusammengestellt und befindet sich in einem Entwicklungsprozess. Niemand von uns kann vorausahnen, wie der während der WM aussehen wird.
Inwiefern birgt diese Erwartungshaltung auch die Chance, zu überraschen? So wie es dem DHB-Team bei der EM 2016 gelang.
Solche Erfolge wie den EM-Titel 2016 kann man nicht planen. Solche Überraschungen passieren – eben durch bestimmte Entwicklungen während eines Turniers. Aber dass wir jetzt Gedankenspiele aufstellen, wie wir eine solche Überraschung wieder erzwingen könnten, ergibt keinen Sinn.
- Gespräch mit Uwe Gensheimer