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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Argentinien-Helden Ihnen steht eine gewaltige Veränderung bevor
Argentinien ist Fußballweltmeister. Das ist das Ergebnis einer imposanten Entwicklung unter einem unterschätzten Trainer. Aber geht das jetzt auch ewig so weiter?
Sie haben lange darauf gewartet, umso exzessiver ist nun das Fest: Argentinien hat sich in Katar nach 36 Jahren wieder zum Fußballweltmeister gekrönt. Innerhalb weniger Stunden versammelten sich über 1,5 Millionen Menschen auf den Straßen von Buenos Aires und bejubeln seitdem ohne Unterlass den historischen Triumph. Dieser Dienstag, an dem das Team um Kapitän und Superstar Lionel Messi den Pokal den Hauptstadtmassen präsentiert, ist zum nationalen Feiertag ausgerufen worden.
Argentinien berauscht sich dieser Tage an seinen Weltmeisterhelden und an sich selbst. Mitten in einer der schwersten Wirtschaftskrisen in der Geschichte des Landes, in der die Hyperinflation zwischen 90 und 100 Prozent pendelt, sehen viele Argentinier im Erfolg von Messi und Co. einen bitter benötigten Hoffnungsschimmer. Dass neben dem Weltpokal auch noch gleich drei individuelle WM-Titel an Argentinier verliehen wurden – Messi wurde als bester Spieler, Emi Martinez als bester Torwart und Enzo Fernandez als bester junger Spieler des Turniers ausgezeichnet –, sorgt für eine enorme Aufbruchstimmung, die hier und da gar in Größenwahn umschlägt.
Macht Argentinien den gleichen Fehler wie Deutschland 1990?
Aber wie viel Substanz hat der fromme Wunsch vieler argentinischer Fans, dass ihre "Albiceleste" nun – frei nach Franz Beckenbauer – auf Jahre unschlagbar sein wird? Kann Argentinien 2026 wirklich der erste Titelverteidiger seit Brasilien 1962 werden?
Wohl kaum.
Ließ sich der "Kaiser" zu seinem legendär überambitionierten Spruch Anfang der Neunzigerjahre hinreißen, weil sich die DFB-Elf durch die Wiedervereinigung als amtierender Weltmeister auch noch mit aus der DDR dazustoßenden Talenten bestücken ließ, basiert der bloße Gedanke einer argentinischen Dominanz im Weltfußball fast komplett auf einer Person, die bald gar nicht mehr zum Kreis der "Albiceleste" gehören wird: Lionel Messi.
Es ist vermessen zu sagen, der sechsfache Weltfußballer habe für Argentinien den WM-Titel im Alleingang gewonnen – die Last, die er jedoch auf dem Weg schulterte, war eines Atlas würdig. Sieben Tore und drei Vorlagen trug der Superstar von Paris Saint-Germain ganz konkret zum Erfolg bei. Eine Sensationsquote bei nur sieben absolvierten Partien. Doch es war mehr sein persönlicher Antrieb, mit dem er das Team beflügelte.
Die WM in Katar war Messis letzte. Die finale Möglichkeit für den 35-jährigen Ausnahmekönner, seine Karriere mit dem wichtigsten aller Titel zu vervollständigen. Das Wissen, dass die Zeit gegen ihn spielte, sorgte für den motiviertesten Messi seit Jahren. Und das wiederum stachelte seine Kollegen an: Wenn Messi alles dem WM-Titel unterordnet, dann müssen wir als Mannschaft alles für ihn geben. Einer für alle, alle für einen in Reinform.
Nicht nur Messi: Argentinien steht enormer Umbruch bevor
Dieses Feuer und dieser Anführer bricht Argentinien mit Messi bald weg. Zwar sagte er im Anschluss an das gewonnene WM-Finale, er wolle noch ein paar Spiele im Trikot mit den nun drei Sternen auf der Brust machen – zur WM 2026 in Kanada, den USA und Mexiko wird er die "Albiceleste" jedoch nicht führen. Genauso wenig wie Abwehrboss Nicolas Otamendi (34) und Flügelgenius Ángel Di María (34).
Überhaupt steht Argentinien ein enormer Umbruch ins Haus. Vielleicht nicht direkt in den kommenden Wochen und Monaten, jedoch ganz sicher mit Blick auf die nächste WM-Endrunde. Mit den beiden Linksverteidigern Marcos Acuña (31) und Nico Tagliafico (30) sowie Torwart Martinez (30) werden bis dahin drei weitere Leistungsträger im Spätherbst ihrer Fußballerkarriere angekommen sein. Und auch der derzeitige "Mittelbau" um Stars wie Paulo Dybala (29) und Rodrigo De Paul (28) wird beim Turnier in Nord- und Mittelamerika zur Riege der "Routiniers" zählen, die um ihre Plätze im Kader hart werden kämpfen müssen.
Zwar haben mit Fernandez (21) und Manchester-City-Stürmer Julian Alvarez (22, vier WM-Tore) zwei Jungprofis die Startelf in Katar entscheidend mitgeprägt, doch fehlt es Argentinien in der Breite an solchen Ausnahmetalenten. Das zeigt auch ein Blick auf die U20 der "Albiceleste": Das südamerikanische Äquivalent zur deutschen U21-Auswahl war bei zwei seiner drei vergangenen Partien ohne eigenen Torerfolg, ließ sich zudem im Juni mit 2:6 von Frankreich regelrecht demütigen. Es fehlt dem Land von Maradona und Messi schlichtweg an Nachwuchskräften, die in den kommenden Jahren den Unterschied ausmachen könnten. Auch die laut "Transfermarkt" wertvollsten U23-Spieler der heimischen Profiliga, wie etwa Alan Varela (21, Boca Juniors) und Facundo Buonanotte (17, Rosario Central), lassen die europäische Fußballelite noch nicht aufhorchen.
Scalonis Gemeinsamkeiten mit Sepp Herberger
Argentiniens Rettung in dieser Situation könnte ausgerechnet der Mann sein, den Maradona nicht einmal als Verkehrspolizisten eingesetzt hätte, wie er einmal sagte: Nationaltrainer Lionel Scaloni. Der 44-Jährige ist in Katar nicht nur zum jüngsten Weltmeistercoach der Geschichte avanciert, sondern hatte zuvor bereits mit der Copa America 2021 den wichtigsten Kontinentaltitel Südamerikas geholt. In seiner seit 2018 währenden Amtszeit verlor der frühere Rechtsverteidiger nur fünf seiner 57 Länderspiele, bis zur Auftaktniederlage in Doha gegen Saudi-Arabien (1:2) blieb er volle 36 Partien in Folge mit der "Albiceleste" ungeschlagen. Und all das mit einem Kader, der individuell betrachtet beide Endspiele hätte verlieren müssen.
Doch Scaloni ist ein akribischer Arbeiter, den Analysen seines Teams um die früheren Weltklassespieler Pablo Aimar, Walter Samuel und Roberto Ayala entgehen keine Schwächen – sowohl des Gegners als auch der eigenen Mannschaft. Zudem gilt er als großartiger, empathischer Kommunikator, der zu jedem Spieler einen individuellen Zugang findet. Sein Verständnis von Fußball fasste er im Gespräch mit der "Süddeutschen Zeitung" in folgendem wundervollen Satz zusammen: "Ich bin sicher, dass man mehr gibt, wenn man mit dem Spieler befreundet ist, der neben einem steht."
Scaloni als argentinische Wiedergeburt des großen Sepp Herberger und seiner "elf Freunde"? Keine allzu abwegige Parabel, schließlich wurde auch die 1954er-DFB-Truppe lange Zeit belächelt, ehe ihr im Finale gegen die haushoch favorisierten Ungarn eine mannschaftlich geschlossene Meisterleistung gelang. Anders als Herberger soll es für Scaloni jedoch nicht bei einem WM-Titel bleiben. Er hat nun vier Jahre Zeit, neue Freundschaften im Kader Argentiniens zu schließen.
- transfermarkt.de: Teamprofil Argentinien
- transfermarkt.de: Top-Marktwerte Liga Profesional de Fútbol
- sueddeutsche.de: "'Messi ist der Irdischste von allen - Tag für Tag'"
- Eigene Beobachtungen