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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nagelsmann kommt ins Zweifeln "Schmeiße ich alles um?"
Die deutsche Mannschaft hat ein katastrophales Länderspiel entsprechend beendet. Der Trainer muss sich Gedanken machen – und überlegt, alles umzuwerfen.
Aus Wien berichtet Noah Platschko
Das deutsche Team um Trainer Julian Nagelsmann war schon längst in den Katakomben des Wiener Ernst-Happel-Stadions verschwunden, da trällerten die etwa 46.000 Zuschauerinnen und Zuschauer den Schlager "I Am from Austria" von Rainhard Fendrich.
Ein rot-weißes Fahnenmeer, eine jubelnde Nation: Das Länderspieljahr 2023, es hätte nicht besser enden können für die österreichischen Fußballer. Ein 2:0-Heimsieg gegen eine desolate DFB-Elf. Ralf Rangnick, deutscher Trainer der ÖFB-Auswahl, bescheinigte seinem Team weit nach Abpfiff die wohl beste Leistung seiner Amtszeit.
Seit Mai 2022 betreut der einst in Deutschland als "Fußballprofessor" verschmähte Rangnick die österreichischen Spieler. Für die EM im kommenden Jahr in seinem Heimatland hatte sich die Elf des 65-Jährigen schon vor dem Duell mit der deutschen Mannschaft längst qualifiziert. Die Österreicher landeten vor der Auslosung am 2. Dezember in Hamburg sogar in Lostopf 2. Bei der vergangenen EM war es noch Lostopf 3. Die Hoffnung auf eine erfolgreiche EM ist groß.
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Deutschland kann von Glück reden, automatisch dabei zu sein
Möglicher Gruppengegner bei der Europameisterschaft könnte dann erneut die deutsche Mannschaft sein, die sich in Topf 1 befindet. Sollte es tatsächlich zum abermaligen Aufeinandertreffen der beiden Nachbarländer kommen, die Favoritenrolle, sie wäre nach jetzigem Stand klar verteilt – und zwar zugunsten der Österreicher.
Wer die 97 Minuten inklusive Nachspielzeit in der Wiener Arena begutachten konnte, dem durfte nach Abpfiff angst und bange werden. Spötter sprachen gar vom Glück der deutschen Mannschaft, als Gastgeber für die kommende EM automatisch qualifiziert zu sein. Von der Qualität her müsste das Team Nagelsmanns derzeit um eine Teilnahme zittern. Nach dem, was sich am Dienstagabend zugetragen hat, hätte wohl niemand widersprechen können.
Unabhängig von der folgenschweren Tätlichkeit, zu der sich Bayern-Star Leroy Sané hinreißen ließ und mit der er seiner Mannschaft aufgrund des anschließenden Platzverweises kurz nach der Halbzeitpause (49. Minute) einen Bärendienst erwies, stand ein Sammelsurium an Einzelkönnern auf dem Platz, das sowohl defensiv als auch offensiv versagt hatte.
Und obwohl der Auftritt in der Offensive ebenfalls äußerst mau war, wählte Bundestrainer Nagelsmann nach Abpfiff drastische Worte – und sprach seiner Mannschaft mehr oder weniger die Fähigkeit zu verteidigen ab. "Es ist unfassbar viel Arbeit auf allen Positionen. Nichts wird leicht von der Hand gehen und wir können nicht in Schönheit sterben. Wir werden auch im Sommer keine Verteidigungsmonster werden. Das sind wir nicht", so die alarmierende Aussage des Bundestrainers.
Nagelsmanns lange Mängelliste
Die Anzahl der Ballverluste im ersten Durchgang sei "absurd" gewesen, ließ Nagelsmann die Journalisten auf der Pressekonferenz nach dem Spiel wissen. Man habe zwar "Spieler aus Topklubs, aber die kriegen die Topklub-Mentalität nicht auf den Platz und müssen dann zu viel verteidigen".
Die Mängelliste war lang. Der Bundestrainer sah zu wenig Bewegung, Standfußball. Kein Andribbeln, fehlende Dynamik – das deutsche Team enttäuschte als Kollektiv. Man würde den Transfer vom Training nicht aufs Feld bekommen. "Wir sind nicht befreit. Man hat das Gefühl, wir sind mehr Einzelkämpfer und sind nicht die Einheit, die wir außerhalb vom Platz sind. Wir strotzen nicht vor Selbstvertrauen, das ist einfach Fakt und das liegt auf der Hand, wenn man auf die letzten Jahre blickt."
Nagelsmann, das war ihm auch kurz vor Mitternacht im Presseraum des Happel-Stadions anzusehen, zweifelt. Auch an den Spielern, denen er das Vertrauen geschenkt hat. "Wir müssen noch mehr arbeiten, müssen über die Kaderzusammenstellung, aber auch über Arbeit ein Gefüge werden. Wir müssen arbeiten auf dem Feld. Ich hoffe, das bringt was. Ich denke ja", sagte er am Ende eines gut fünfminütigen Monologs, den er mit einem fast schon gequälten Lachen abschloss.
Nagelsmanns Worte lassen aufhorchen
Nach der "Watschn von Wien" hat der 36-Jährige zumindest genug Zeit, um über die richtige Kaderzusammenstellung nachzudenken. Ein, zwei Talente weniger, dafür ein, zwei "Arbeiter" mehr lautete eine mögliche Veränderung. Er habe nicht "die eine Idee im Kopf", wie alles besser werden könne. Allerdings gab der Bundestrainer noch weitere Sätze von sich, die tief blicken und auch Selbstzweifel erkennen lassen.
"Man knallt eine Idee nicht auf eine Mannschaft, man schaut sich an, was man für Spieler hat. Und dann schaut man, welche Lösungen es drumherum besser machen. Wir haben uns für einen Weg entschieden – auch in Rücksprache mit der Mannschaft – und in allen Spielen dasselbe gespielt, nur mit zwei, drei Wechseln in der Startelf. Schmeiße ich im März alles um und passe es nur noch dem Gegner an? Darüber muss ich nachdenken", gab Nagelsmann zu.
Es war eine in der Form ungewohnte Offenlegung eigener Zweifel, die der Bundestrainer nach seinem erst vierten Spiel als verantwortlicher Coach an den Tag legte. Er dürfte nach zwei Länderspielmaßnahmen realisiert haben, wie kompliziert die Aufgabe werden wird, jene Truppe aus Einzelkönnern in die Verfassung zu bringen, um den EM-Titel mitspielen zu können. Denn das will der DFB laut Präsident Bernd Neuendorf. "Wir spielen ein Turnier im eigenen Land", sagte er am Sonntag beim TV-Sender Bild. Da müsse das Erreichen des Endspiels "der Anspruch" sein. Von diesem Anspruch wird man sich beim DFB auch nach dem desolaten Jahresabschluss nicht verabschieden. Allein: Das letzte Länderspiel des Jahres hat gezeigt, dass es momentan nicht reicht.
Die Euphorie ist dahin
Nach dem Sieg zum Start in den USA ist die leichte Anfangseuphorie rund um den neuen Bundestrainer früh verflogen. Jene zwei Pleiten gegen die Türkei und Österreich werden in den kommenden Monaten wie ein bleierner Schleier über der Nationalmannschaft schweben. Ex-DFB-Direktor Oliver Bierhoff bemühte einst den Ausdruck der "grauen Wolke", die sich über der deutschen Mannschaft befinde. Derzeit hat es den Anschein, dass zu dieser Wolke noch ein großer Schauer hinzugekommen ist.
Alarmierend dürften auch die Aussagen von Kapitän İlkay Gündoğan sein, der als positivsten Aspekt hervorhob, dass es immerhin schlechter nicht sein könne. Eine Bankrotterklärung des Kapitäns und eine traurige Bestandsaufnahme des deutschen Fußballs im November 2023.
Das komplette Gegenteil offenbart sich dagegen bei den österreichischen Nachbarn, die den großen Sieg noch bis tief in die Nacht feierten. "Natürlich hoffe ich aufs Finale, aber zumindest das Viertel- oder Halbfinale könnt's schon sein", zeigte sich ein Wiener Taxifahrer vorsichtig optimistisch, als er den Wiener Ring entlang auf die Staatsoper zufuhr. Angesprochen auf die Chancen der Österreicher bei der EM wohlgemerkt.
Dass die Rangnick-Elf tatsächlich unter die besten acht oder vier Teams kommt, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt zumindest als deutlich realistischer einzuschätzen als ein vergleichbares Abschneiden der deutschen Mannschaft. Auch das ist die schonungslose Realität.
- Eigene Recherche
- Eigene Beobachtungen im Stadion
- Aussagen von Julian Nagelsmann im ZDF
- Aussagen der Spieler in der Mixed Zone
- Pressekonferenz von Julian Nagelsmann nach Österreich – Deutschland