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WM 2022 in Katar – "Turnier der Schande": Die Zerreißprobe des Fußballs


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Die Skandal-WM in Katar
28 Tage, die im Fußball alles verändern


Aktualisiert am 01.09.2021Lesedauer: 8 Min.
Nationalspieler und WM-Baustellen: Das Turnier in Katar ist so umstritten wie kein anderes zuvor.Vergrößern des Bildes
Nationalspieler und WM-Baustellen: Das Turnier in Katar ist so umstritten wie kein anderes zuvor. (Quelle: imago-images-bilder)
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Der Fußball soll Menschen aus aller Welt miteinander verbinden. Doch die WM in Katar zeigt, dass Werte dem Geld gewichen sind. Es wird ein Boykott gefordert. Ist das wirklich die Lösung?

Das deutsche Bundesland Mecklenburg-Vorpommern ist doppelt so groß wie Katar. Doch während Nachrichten aus Rostock, Schwerin oder Greifswald international nur ganz selten eine Rolle spielen, steht der Staat aus dem Persischen Golf permanent in den weltweiten Schlagzeilen. Auch wenn es an Fläche mangelt, an Geld mangelt es nicht. Man will sich in einen Bereich einkaufen, in dem man bisher keine Rolle spielte, der aber in der Öffentlichkeit hochgeschätzt wird: den Sport. Hier will Katar in das Scheinwerferlicht. Und dafür sind fast alle Mittel recht.

Was mit einer umstrittenen Handball-WM 2015 begann und mit einer für Sportler aufgrund der Hitze gesundheitlich riskanten und heftig kritisierten Leichtathletik-WM 2019 fortgeführt wurde, gipfelt in der Fußball-WM 2022, die polarisierende Vorgänger wie die WM 2018 in Russland wie ein harmonisches Fest aussehen lässt.

Dabei spielt der Fakt, dass die Fußball-WM mitten im Winter stattfindet und dadurch den kompletten Spielplan auf den Kopf stellt, nur eine Nebenrolle. Im Fokus steht vor allem der Umgang Katars mit seinen rund 2,3 Millionen Arbeitsmigranten. Tausende von ihnen sind seit der Vergabe der WM gestorben, viele andere lebten und arbeiteten unter katastrophalen Bedingungen. Zusammengepfercht auf wenigen Quadratmetern hausten Männer und Frauen, die ihre Gesundheit riskierten, um Geld für ihre Familien daheim zu verdienen. Videos und Berichte deckten Menschenrechtsverletzungen auf, stellten Katar und die Arbeitgeber an den Pranger.

Explodierende Kosten

Auch in diesen Tagen nimmt die Diskussion wieder Fahrt auf, denn die deutsche Nationalmannschaft steht in der WM-Qualifikation gegen Liechtenstein, Armenien und Island auf dem Platz. Damit rückt auch das Turnier im Dezember nächsten Jahres mehr in den Fokus.

Laut eines Berichts des Internationalen Gewerkschaftsbunds (ITUC) kostet die WM in Katar über 200 Milliarden US-Dollar. Zum Vergleich: Für die WM 2014 in Brasilien rechnet der ITUC mit rund 15 Milliarden Dollar, für Russland 2018 mit 12 Milliarden. Damit investierte Katar mehr als zehnmal so viel wie seine Vorgänger. Ein U-Bahnnetz, Straßen und sogar eine Stadt wurden errichtet. "Lusail City" wurde nördlich von Doha aus dem Boden gestampft. Bei der WM soll hier vor über 86.000 Zuschauern das Finale stattfinden.

Das Geld floss in erster Linie an Baufirmen, die die verschiedenen Projekte umsetzten – und Geld sparen wollten. Dabei profitierten sie vom sogenannten "Kafala-System". Ein System, das stark kritisiert wird, da es die Rechte von Arbeitnehmern eingrenzt.

Lisa Salza von Amnesty International erklärt es im Gespräch mit t-online wie folgt: "Es bindet die Arbeitsmigrantinnen und -migranten an ihre Arbeitgeber und verringert die Entscheidungsfreiheit. Ein Beispiel dafür ist die strafbare, aber weitverbreitete Praxis der Arbeitgeber, Pässe einzubehalten: Der Arbeitgeber braucht zunächst den Pass, um eine Aufenthaltsgenehmigung für die Arbeitnehmer zu beantragen. Dann muss er ihn zurückgeben. Die überwiegende Mehrheit der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten bekommt ihren Pass aber nicht wieder." Ein Beispiel hat sie auch parat: "Als es 2015 in Nepal, einem Land, aus dem viele Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter kommen, ein verheerendes Erdbeben gab, konnten viele nicht ausreisen, um ihre Familie zu sehen. Das war eine große Verletzung ihrer Menschenrechte. Da sieht man, dass dieses System dem Missbrauch Tür und Tor öffnet."

Und auch die Rechte der Frauen sind stark eingeschränkt, wie Kristin Diwan vom Golfstaaten-Institut in Washington, D.C., t-online erklärt: "Die Situation der Frauen kann man mit der Situation der Gastarbeiter früher vergleichen. Die Gastarbeiter brauchten einen Arbeitgeber, der sie ins Land holt und sie bei sich anstellt. Frauen stehen unter der Vormundschaft eines Mannes. Ohne die Erlaubnis ihres Ehemannes oder Bruders konnten sie nicht reisen oder arbeiten."

Wenn ein WM-Gastgeber Menschenrechte missachtet und Frauen unterdrückt, sollte man ihm dann nicht das nehmen, was er will – Aufmerksamkeit – und das Turnier boykottieren?

Diese Frage hat eine weltweite Diskussion ausgelöst, die die Grenzen des Fußballs überschreitet. Denn die Antwort ist nicht so leicht, wie sie auf den ersten Blick scheint.

Aufmerksamkeit nutzen statt Boykott?

"Generell bin ich der Meinung, dass wir für einen Boykott zehn Jahre zu spät dran sind. Die WM wurde nicht dieses Jahr vergeben, sondern ein paar Jahre zuvor." Diese Aussage von Joshua Kimmich Ende März schlug Wellen im Internet. Wenige Tage nachdem die deutsche Nationalmannschaft beim Länderspiel gegen Island mit T-Shirts mit der Aufschrift "Human Rights" auf sich aufmerksam machte, erklärte der 26-Jährige seinen Standpunkt zum umstrittenen WM-Gastgeber: "Wir als Fußballer haben eine gewisse Verantwortung und sehen uns daher auch in der Verantwortung, Dinge anzusprechen."

Der damalige Bundestrainer Joachim Löw pflichtete Kimmich bei: "Ein Boykott hilft niemandem. Man kann mit so einem Turnier Aufmerksamkeit in der ganzen Welt erzeugen und Dinge in die richtige Richtung bringen." Löw und Kimmich wurden dafür als naiv und egoistisch betitelt, schließlich würden sie auf keine WM verzichten wollen. Doch mit ihrer Meinung standen sie nicht allein da. Auch Amnesty International sah in der Durchführung der WM eine Chance. Amnesty-Mitarbeiterin Regina Spöttl sagte im März zu "watson": "Es gibt Fortschritte, und mit einem Boykott würden diese um Jahre zurückgeworfen werden."

Lisa Salza führt im Gespräch mit t-online weiter aus: "Die Fifa muss die Forderungen der Fußballfans ernst nehmen und garantieren, dass die Weltmeisterschaft 2022 ein Turnier sein wird, das nicht durch Missbrauch und Ausbeutung überschattet wird. Amnesty International will die internationale Aufmerksamkeit, die auf Katar liegt, nutzen, um auf die Arbeitsbedingungen der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten hinzuweisen und positive Reformen zu erwirken. Dazu dokumentieren wir auch, ob die Versprechen tatsächlich eingehalten werden. Unsere Arbeitsweise besteht aus Dokumentation und Aufklärung von Missständen sowie der Ausübung von Druck auf die Verantwortlichen."

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Was in Katar geschehen ist

Tatsächlich hat sich seit der WM-Vergabe im Jahr 2010 einiges in Katar getan, auch wenn es zu Beginn noch holprig war. "2015 führte das Land ein Lohnschutzsystem ein, mit dem unregelmäßige Gehaltszahlungen verhindert werden sollten", erklärt Kristin Diwan. Viel geholfen hat das damals nicht, da die Unternehmen an anderen Stellen tricksen konnten. Es kam weiter zu unregelmäßigen Gehaltszahlungen. Auch Lisa Salza merkt an: "Zu Beginn gab es nur kosmetische Gesetzesänderungen, die nicht wirklich einen Effekt für die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter hatten. Aber ab 2017 wurden die Verbesserungen griffiger. 2018 wurden zwei wichtige UNO-Menschenrechtsabkommen ratifiziert – auch wenn es dort die Ausnahme gab, dass Gewerkschaften für Ausländer verboten blieben."

Wirkliche Meilensteine gab es erst 2020, berichtet der Journalist Faras Ghani von Al Jazeera. Er lebt und arbeitet in Katar und dokumentiert die Reformen vor Ort. Für ihn stachen zwei Entscheidungen heraus, die die Situation der Gastarbeiter veränderten:

1. "Im August 2020 wurde ein Mindestlohn beschlossen, der im Februar 2021 in Kraft trat. Dieser lag bei 1.000 Riyal (rund 230 Euro) im Monat. Dazu muss der Arbeitgeber Nahrung und eine Unterkunft bereitstellen. Tut er das nicht, muss er weitere 700 Riyal (rund 160 Euro) zahlen. Alle Arbeitsverträge müssen vom Ministerium für gültig erklärt werden. Legal kann man seitdem nicht weniger Geld zahlen."

2. "Die Regierung hat das NOC (No Objection Certificate, zu Deutsch: Kein-Einspruch-Zertifikat) gestrichen. Das war ein Zertifikat, das den Gastarbeiter von seinem Arbeitgeber abhängig machte. Wenn man nach Katar kam, musste man von einem Unternehmen oder einer Einzelperson 'gesponsert' werden. Dieses Unternehmen oder diese Person musste für Visa, Unterkunft und Verpflegung aufkommen. Dadurch entstand ebenjene Abhängigkeit. Seit dem Beschluss kann man sich beim Arbeitsministerium direkt melden und bewerben, sofern man gewisse Anforderungen erfüllt. Aber: Die Gastarbeiter, die schon vor der Reform im Land waren, brauchen ein genehmigtes Kündigungsschreiben von ihrem bisherigen Arbeitgeber – was neue Probleme birgt."

Die Unterkünfte der Gastarbeiter

Nicht nur das Land Katar, sondern auch die vielen Baufirmen mit WM-Aufträgen gerieten immer stärker unter Druck. Denn auch sie trugen ihren Teil zur Ausbeutung der Gastarbeiter bei. Bei den Unterkünften kam es zu schockierenden Bildern. Ein Team des WDR deckte für die Sendung "Sport inside" auf, wie schlecht die Lebensbedingungen vieler Migranten waren: unhygienische und heruntergekommene Unterkünfte, in denen sich Krankheiten schnell verbreiten.

Es waren keine Einzelfälle, denen das WDR-Team begegnete. Auch andere internationale Medien machten ähnliche Feststellungen bei anderen Firmen. Der Druck wurde größer – und führte zumindest in Teilen zu einer Verbesserung der Lage, berichtet Ghani: "Die Unterkünfte der Arbeiter für die WM sind besser als die Unterkünfte der Arbeiter anderer Baustellen. Ich habe nicht alle von innen gesehen, vieles hängt natürlich auch von der Baufirma ab. Aber das Scheinwerferlicht auf die WM-Baustellen ist so groß, dass sich die Unternehmen keine negative Presse leisten können."

Weiter sagt er: "Eigentlich soll die Regierung die Unterkünfte auch regelmäßig checken, aber es gibt einige, bei denen das nicht stattfindet. Menschen haben mir von Unterkünften mit sechs bis acht Personen – manchmal sogar mehr – berichtet. Wir haben von Sieben-Tage-Wochen mit unbezahlten Überstunden erfahren, weil Firmen nur unregelmäßig überprüft werden. Die Regierung sollte die Zahl der Inspektionen erhöhen."

Das Problem mit den Beschwerden

Sich den Journalisten zu offenbaren, fällt manchen Gastarbeitern leichter, als gegenüber der Regierung auszupacken. Denn Beschwerden werden nicht immer vertraulich behandelt. "Auf dem Papier ist es sehr leicht. Es gibt eine Nummer, die man anrufen oder der man schreiben kann. Doch viele Arbeiter sind verängstigt. Wenn du dich beschwerst, wird es dein Arbeitgeber in den meisten Fällen herausfinden. Und das hat Konsequenzen. Der Arbeitsvertrag wird gekündigt, manche Menschen werden sogar nach Hause geschickt. Es gab Fälle von Gastarbeitern, gegen die nach einer Beschwerde plötzlich ein Gerichtsverfahren lief oder deren Ausweis für ungültig erklärt wurde", berichtet Ghani.

Das hörte auch während der Corona-Krise nicht auf, ganz im Gegenteil: "Wir haben über Fälle berichtet, in denen die Firmen während der finanziellen Probleme neun Monate lang keine Gehälter auszahlten. Beschweren wollte sich aber niemand, schließlich hätte das die Heimreise ohne Geld bedeuten können."

"Die Reformen sollen verwässert werden"

Es gibt also trotz der Reformen, die definitiv eine wichtige Errungenschaft für die Zukunft sind, noch einige Lücken. Erste Bestrebungen könnten diese Reformen auflockern. "Im Februar dieses Jahres hat der Schura-Rat, ein beratendes Gremium der Regierung, eine Reihe von Empfehlungen veröffentlicht. Er hat zum Beispiel vorgeschlagen, dass ein Arbeitnehmer höchstens dreimal seinen Job wechseln darf oder nur ein bestimmter Prozentsatz von Arbeitnehmenden das Land verlassen darf. Dies sind bisher nur Vorschläge, aber allein, dass diese Empfehlungen auf dem Tisch liegen, ist ein klares Signal: Die Reformen sollen verwässert werden", erklärt Katar-Expertin Lisa Salza von Amnesty International.

Es braucht also das Scheinwerferlicht durch den Fußball, um diese Verwässerungen nicht zuzulassen. Doch was geschieht nach der WM, wenn die Scheinwerfer Richtung WM 2026 gerichtet sind? "Wir hören aus Unternehmerkreisen, dass es die Bestrebungen gibt, die Reformen rückgängig zu machen. Aktuell ist der öffentliche Druck dafür aber noch zu groß. Deshalb wirken wir auch immer wieder auf die Fifa ein, damit sie ihren Einfluss nutzt und die Reformen Bestand haben."

Was jedoch helfen könnte: Katar will die Asienspiele 2030 veranstalten und auch bei der Formel 1 ein regelmäßiger Gastgeber sein. Salza resümiert: "Eine gewisse Aufmerksamkeit wird es weiterhin geben, die unseren Bestrebungen für mehr Einhaltung der Menschenrechte hilft."

Doch eine Aufmerksamkeit wie vom 21. November bis zum 18. Dezember 2022 wird es nicht mehr geben. Denn die Fußball-WM hat ein einzigartiges Rampenlicht. Es sind 28 Tage, die im Fußball alles verändern. Denn dieses Turnier spaltet schon über ein Jahr vor dem Eröffnungsspiel die Fanlager. Die Entfremdung zwischen einigen Anhängern des Sports und dem Sport selbst wächst. Und sie wird nicht weniger. Ein Boykott ist möglich und wäre gut begründet, aber in seiner Umsetzung ist er eher unwahrscheinlich.

Der Fußball kann jetzt entscheiden, ob er mit den Schultern zucken will oder nicht. Denn die Chance, diese "WM der Schande", wie sie von Amnesty International genannt wurde, für einen positiven Einfluss zu nutzen, ist groß. Dass das auch die Spieler begriffen haben, war zumindest in Teilen schon zu sehen. In seinem Podcast "Einfach mal Luppen" sagte Ex-Nationalspieler Toni Kroos, worauf es ankommt: "Der Fußball muss natürlich auf die Probleme aufmerksam machen, auch mit der Reichweite und auch immer wieder."

Vielleicht auch in einem der sieben restlichen deutschen Spiele in der WM-Qualifikation.

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