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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Zum Tod von Franz Beckenbauer Der Mensch hinter der Fassade des "Kaisers"
Sie nannten ihn "Kaiser": Franz Beckenbauer wurde als Spieler und Trainer Weltmeister. Er war wohl der bisher größte deutsche Fußballer. Die "Lichtgestalt" kannte aber auch dunkle Zeiten.
Zuletzt hatte ihn der Mut verlassen, die Lebensfreude. Ausgerechnet ihn, der einst voller Überzeugung "gute Freunde kann niemand trennen" sang. Der in fast allen Lebenslagen Schelm, Charmeur, Menscheneroberer war.
So überzeugt, wie Franz Beckenbauer neben Udo Jürgens "mit 66 fängt das Leben erst an" gesungen hatte, ehe der Freund 2014 völlig überraschend aus einem blühenden Leben gerissen wurde, so sehr erkannte er, dass mit 66 der Herrgott Zeichen sendet. Dass bis zum Schluss eben nicht mehr so lange Zeit bleibt. Seine geliebte Mutter war mit 92 Jahren eine Ausnahme. Antonie Beckenbauer, die er so gern besuchte, wenn er Termine in München hatte, und dort lieber in seinem alten Kinderbett schlief als im Luxushotel.
Beckenbauer fiel immer öfter in depressive Phasen, kränkelte spätestens seit dem Tod seines Sohnes Stefan, den 2015 im Alter von 46 Jahren ein Gehirntumor aus dem Leben riss. Eine Bypass-Operation hatte er mit zwei Rehas gerade einigermaßen überstanden, als ihn ein Augeninfarkt halb erblinden ließ.
Ihm flog um die Ohren, wofür man ihn feierte
Beckenbauer war verbittert, weil ihm um die Ohren flog, wofür man ihn viele Jahre lang gefeiert hatte – dass er als Chef des Organisationskomitees die WM 2006 nach Deutschland geholt hatte, bekannt als "Sommermärchen". Wo doch den meisten klar war, dass man auch auf dem Funktionärsparkett ein bisschen dribbeln und tricksen muss, wenn man Erfolg haben will. Verbittert war er auch, weil man ihm nachstellte, als hätte er ein schweres Verbrechen begangen. Wobei auch ihm klar war, dass nicht alles rechtens gewesen war im Kampf um die WM.
Viele seiner Freunde und langjährigen Wegbegleiter sahen und sehen das ähnlich. "Seine Lebensleistung für den deutschen Fußball kann man nicht hoch genug einschätzen", sagte Karl-Heinz Rummenigge zuletzt im Gespräch mit t-online und forderte: "Dementsprechend sollte auch der DFB diese gebührend würdigen." Rummenigge wünschte sich, "dass Franz den Stellenwert erhält, den er verdient. Er war als Spieler und als Trainer Weltmeister, er gehört in die Kategorie 'Top of the Tops', die jemals im Fußball existiert haben."
Der Erfolg zieht sich als roter Faden durch das Leben von Franz Beckenbauer, genannt "Kaiser", "Gentleman am Ball", "Libero" (die Position als freier Mann und Spielmacher hinter und vor der Abwehr hatte er selbst erfunden, kreiert).
Alles hätte schiefgehen können
Dabei hätte alles schiefgehen können, als Beckenbauer mit jungen 17 Jahren Vater seines ersten Sohnes Thomas wurde. Das missfiel dem damaligen Bundestrainer Sepp Herberger, Vater des Wunders von Bern und Verfechter altdeutscher Disziplinwerte. Beckenbauer wurde auf seinen Befehl hin vom DFB geächtet und nicht mehr in Auswahlmannschaften berufen.
Es war seinem väterlichen Freund Dettmar Cramer, damals Assistent von Herberger, zu verdanken, dass das Ausnahmetalent begnadigt wurde. Cramer teilte mit ihm sogar ein Doppelzimmer, um zu demonstrieren, dass Beckenbauer nun wahrlich kein Rabauke war, der nachts auf Streifzug ging. Im Gegenzug sorgte Beckenbauer dafür, dass Cramer im Januar 1975 Bayern-Trainer wurde.
Der "Kaiser" ließ sich seine Freiheit bis zum Schluss nicht nehmen. "Der Herrgott freut sich über jedes Kind", sagte er, als ihm der Herrgott mit 55 Jahren noch einen Sohn (Joel), mit 58 nach vier Söhnen auch noch eine Tochter (Franziska) schenkte – beide mit Heidi, seiner dritten Ehefrau, die am Ende einen Großteil seiner Geschäfte und die Stiftung verwaltete.
Was Beckenbauer der deutschen Fußballwelt gegeben hat, das füllt Bände. Mit ihm ist der Aufstieg des FC Bayern 1965 in die Bundesliga verbunden, die erste Meisterschaft in der Bundesliga (1969), das erste Double (1969), der erste Europacupsieg (1967), drei Europacupsiege hintereinander (1974 bis 1976). Der Höhenflug der Nationalmannschaft (Europameister 1972, Weltmeister 1974). Viermal Fußballer des Jahres (1966, 1968, 1974, 1976), zweimal Europas Fußballer des Jahres (1972, 1976) waren die logische Folge, und Ansporn für seinen langjährigen Manager Robert Schwan, den "Kaiser" auch zum König in der Werbung zu machen.
Er schwebte über den Rasen
Die Erfolge sind verbunden mit einem Beckenbauer, der den Ball nicht quälte, der ihn streichelte, dem alles in den Schoß zu fallen schien. Der bei der WM 1966 in England erstmals die Welt verzückte, als er schwerelos über den Rasen tänzelte, fast beschwingt die Gegner umdribbelte. Dabei gab es auch das andere Gesicht des "Kaisers". So war sein weißes Trikot 1976 dunkel vom Morast des Stadions von Cruzeiro Belo Horizonte, als er sich mehrmals mit dem Kopf voraus in die Regenschlacht warf, bis Bayern sich mit dem Titel eines Weltpokalsiegers krönen durfte.
Beckenbauer hat sich bei allem begnadeten Talent auch nach der aktiven Karriere alles hart erarbeitet. Als Teamchef der Nationalmannschaft den WM-Titel 1990, damals schon mit einem offenen Ohr für Leistungsdiagnostiker und Statistiker, entgegen seinem Ruf, er habe nur gesagt: "Geht's raus und spielt's Fußball!" Von wegen "schau'n mer mal".
Das Weltmeistertreffen im Juli 2023 in einem Hotel am Chiemsee zum Jubiläum 33 Jahre nach dem Triumph verpasste Beckenbauer aus gesundheitlichen Gründen.
Der Spieler Beckenbauer ergriff in der Kabine immer wieder das Wort, wenn ihm die Anweisungen des Trainers nicht genügten. In der Rotwein-Nacht nach dem 0:1 gegen die DDR bei der WM 1974 rüttelte Beckenbauer, angespornt von seinem genialen Zimmer-, Bayern- und Doppelpasspartner Gerd Müller, die Mannschaft wach, forderte von Bundestrainer Helmut Schön Konsequenzen. Uli Hoeneß stand für ein Spiel nicht mehr in der Startaufstellung, was ihm und der Mannschaft guttat. Oft genügte schon ein verächtliches Abwinken des "Kaisers", damit ein Ruck durch die Mannschaft ging, auch durch Hoeneß.
"Wir lauschten ihm ehrfürchtig"
Als Trainer flippte er während des WM-Viertelfinales gegen die damalige Tschechoslowakei (1:0) aus. Überliefert ist seine Anweisung, Jürgen Klinsmann nicht mehr anzuspielen, den zuvor im Achtelfinale gegen die Niederlande noch besten Mann (2:1), weil ihm die Bälle versprangen. Danach trat Beckenbauer gegen die Kabinentür, traf einen Eiskübel volley, die Spieler gingen in Deckung, da Dutzende von Eiswürfeln durch die Kabine flogen. Ein richtungsweisender Auftritt auf dem Weg zum WM-Titel. Andreas Brehme, Schütze des 1:0 im Finale gegen Argentinien, sah in Beckenbauer immer die Respektsperson: "Natürlich war der Franz auch locker drauf, gab uns viele Freiheiten. Bei den Mannschaftssitzungen jedoch hätte man eine Stecknadel fallen hören. So ehrfürchtig lauschten wir ihm."
Am meisten geackert hat Beckenbauer wohl zwischen der WM-Bewerbung im Jahre 1998, der WM-Vergabe 2000 und der WM 2006 im eigenen Land. Acht Jahre rastlos in der Luft, in allen Fußball-Ländern dieser Erde Klinken geputzt, Diener gemacht, den Diplomaten gespielt, so elegant wie früher am Ball – bis hin zum Sommermärchen.
Auch am Ende der Spielerlaufbahn hatte Beckenbauer einen viel längeren Atem, als man ihm das gemeinhin zugetraut hatte. 1980 holte der damalige HSV-Manager Günter Netzer den 35-Jährigen nach dreijährigem Aufenthalt bei Cosmos New York (zusammen mit Pelé) noch für zwei Jahre nach Hamburg. 1982 wurde seine Bundesliga-Rückkehr auch mit der Deutschen Meisterschaft gekrönt.
Der größere Erfolg: Mexiko oder Italien?
Bis heute kann man streiten, was der größte Erfolg des Trainers Franz Beckenbauer war: Die WM 1986 in Mexiko, als er mit einer verletzungsanfälligen Trümmer-Mannschaft Vizeweltmeister wurde (gegen Argentinien mit dem damals übermächtigen Diego Maradona). Oder die WM 1990, als er in Italien mit Inter Mailands Lothar Matthäus, Andreas Brehme und Jürgen Klinsmann siebenmal Heimspiel hatte und bis zum WM-Titel mit einem strengen und dennoch antiautoritären Führungsstil sechsmal siegte (in der Vorrunde 1:1 gegen Kolumbien).
Als Beckenbauers Kräfte auf dem Rasen nachließen, missionierte er den Fußball weltweit als Kolumnist der dpa-Tochter Global Media Service (gms), wo seine Kolumnen von 1988 bis 2015 in 33 Sprachen übersetzt wurden (nur auf Deutsch durften sie wegen seines Vertrags mit der "Bild"-Zeitung nicht erscheinen). Egal ob im tiefsten Afrika, in Asien, in Südamerika: Überall verschlangen Fans, Häuptlinge, Staatschefs, Könige seine Worte, überall verneigten sie sich vor dem "Kaiser". Weil er das Spiel mit den Medien und Funktionären genauso gut beherrschte wie einst den Ball. Und weil er fast nebenbei und dennoch gewissenhaft auch Präsident des FC Bayern war (1994 bis 2009), in Personalunion sogar zweimal Trainer. Einmalig in der deutschen Fußballgeschichte.
Niemals auf dem Thron
Ein erfülltes Leben also. Ein Leben auch für seine Stiftung. Im Gegensatz zu manch anderen kümmerte er sich oft selbst um die Bedürftigen. Der Kontakt bedeutete ihm viel. Beckenbauer hatte ein wunderbares Gespür für einfache Leute. Mit nobler Geste erhöhte er Trinkgelder für Dienstleister auf kaiserliche Höhen. Die Beschenkten blieben oft fassungslos, mit Tränen in den Augen, zurück.
Das war also der Mensch hinter der Fassade des "Kaisers", der sich niemals selbst auf einen Thron gesetzt hatte.
So traurig es war, als Beckenbauer nach dem Infarkt auf dem rechten Auge erblindete, dachte, ihn hätte der Gehirntumor von Sohn Stefan eingeholt, so herzlich konnte er auch über die Erinnerungen an unbeschwerte alte Zeiten immer wieder lachen. Beispielsweise über den Treffer auf die ZDF-Torwand, den er von einem Weizenbierglas aus absolvierte, nachdem er 1994 auch als Trainer mit den Bayern Meister geworden war.
Oder wenn er vom 7:1 in Norwegen erzählte, als sich Günter Netzer an jenem 22. Juni 1971 endlos lange den Ball zum Freistoß zurechtlegte, und er, weil es ihm zu lange dauerte, den ruhenden Ball zur Verblüffung Netzers einfach ins Tor schoss zum 3:0. Dennoch fasste Netzer in einem "Sport Bild"-Interview das Phänomen Beckenbauer treffend zusammen: "Es gab keinen Besseren vor ihm, keinen Besseren nach ihm. Er war der Beste, den wir je gehabt haben."
- Eigene Recherchen