Boxen Charr will Klitschko in die Sportrente schicken
Aus Moskau berichtet Jens Bistritschan
Die beiden Kontrahenten waren kaum auseinander zu bringen. Minutenlang starrten sich Box-Weltmeister Vitali Klitschko und sein Herausforderer Manuel Charr nach dem Wiegen in Moskau vor ihrem Kampf um den WBC-Titel im Schwergewicht in die Augen. Keiner der beiden Schwergewichtler wollte Schwäche beweisen. Es bedurfte schon des ganzen Körpereinsatzes von Thomas Pütz, dem Präsidenten des Bundes Deutscher Berufsboxers, um die beiden Boxer zu trennen. "Ich freue mich" raunte Dr. Eisenfaust seinem Gegner noch zu.
Beim Posieren danach spielte sich dann Charr wieder in den Vordergrund. Er trat ein Stück nach vorne und verdeckte größtenteils nun seinen Gegner. Von Klitschko erntete er dafür nur ein mitleidiges Lächeln.
Charr kann sich beherrschen
"Ich habe schon gedacht: Jetzt wird es so kommen wie bei Chisora", sagte Wladimir Klitschko als der ganze Spuk vorbei war und spielte auf die Ohrfeige an, die Dereck Chisora seinem Bruder nach dem Wiegen vor deren Kampf gegeben hatte. "Es war kurz davor, aber Charr hat sich dann doch zurückgehalten", meinte der jüngere Klitschko-Bruder.
An Selbstbewusstsein jedenfalls fehlt es Charr nicht. So verkündete der zuerst eingetroffene Herausforderer den wartenden Journalisten, dass sie "hier den neuen Weltmeister sehen".
Manchmal hilft ein wenig Provokation
Überhaupt scheint sich der 27-Jährige, der 109,5 Kilo auf die Waage brachte, in der Rolle des provozierenden Herausforderers zu gefallen. Nach der Absage von Wladimirs Kampf gegen Jean-Marc Mormeck im Dezember 2011 wegen eines Nierensteins hatte Charr sich als Ersatz zur Verfügung gestellt. Er wolle gegen Vitali boxen, um den Kampfabend zu retten. Klitschko-Manager Bernd Bönte lehnte damals noch ab. "RTL" würde nicht einmal ansatzweise über den Namen Charr als Gegner nachdenken.
Doch so schnell ändern sich die Zeiten. Jetzt bekommt Charr doch seine Chance. Es ist anzunehmen, dass seine Vermarktbarkeit dann doch besser ist, als zunächst gedacht. Boxerisch hat der Herausforderer noch keine großen Taten vorzuweisen. Er ist zwar in seinen 21 Profikämpfen noch ungeschlagen, gewann elf Mal vorzeitig. Doch einen Gegner von Format hat er noch nicht geboxt.
Bald im ukrainischen Parlament?
"Meine Erfahrung ist mein großer Vorteil", sagte deshalb auch schon Vitali Klitschko im Trainingslager in Österreich. Dr. Eisenfaust hat 44 Profikämpfe bestritten, 42 davon gewonnen. 40 Mal hörte der Gegner den Schlussgong nicht. Und die zwei Niederlagen waren bedingt durch Verletzungen - darunter der Cut der zum Abbruch seines Fights gegen Lennox Lewis führte - Klitschko führte damals auf den Zetteln aller Punktrichter.
Im Stanglwirt, das Fünf-Sterne-Hotel bezeichnet er liebevoll auch gerne als "mein Sanatorium", hat er sich wie schon seit Jahren mit seinem Trainer Fritz Sdunek auf den kommenden Gegner vorbereitet. Und nebenbei noch Zeit gefunden, sich um die Politik in seiner Heimat Ukraine zu kümmern. Denn Ende Oktober stehen dort Parlamentswahlen an. Klitschko ist Vorsitzender der Partei UDAR. Laut Umfragen liegt diese bei 12 bis 15 Prozent der Wählerstimmen und würde so die Fünf-Prozent-Hürde locker nehmen. Mit diesem Ergebnis wäre Klitschko ab dem Herbst Abgeordneter des ukrainischen Parlaments.
Klitschko lässt Zukunft als Boxer offen
Und so ist die spannendste Frage im Vorfeld des Kampfes gegen Charr nicht, ob der 112 Kilogramm schwere Klitschko auch diesmal gewinnt. Viel mehr wollten die Journalisten und sicherlich auch die Fans des Ukrainers wollen wissen: Ist dies vielleicht das Ende der Box-Karriere von Dr. Eisenfaust? Die deutsche Sprache habe, so Klitschko, da so ein schönes Wort, dass es in der ukrainischen und russischen Sprache nicht gebe: "Jein".
Zumindest erwartet - oder ist es nur Hoffnung? - der Champion, dass Charr seine Chance suchen wird und nicht wie mancher Klitschko-Gegner in der jüngeren Zeit einfach über die Runden kommen will. "Ich habe das in seinen Augen gesehen", sagte er. Und vielleicht ist es ja Charr, der die Frage nach der Fortsetzung der Karriere seines Gegners beantworten wird. Der Diamond Boy bemühte im Vorfeld des Kampfes nach der Frage zu seinen Erfolgsaussichten sogar Mahatma Gandhi: "Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du."