Katastrophen "nicht ausgeschlossen" So hoch ist das Risiko für heftige Erdbeben in Baden-Württemberg
Baden-Württemberg ist das seismisch aktivste Bundesland. Wie wahrscheinlich ist die Gefahr eines Bebens mit einem Ausmaß wie in der Türkei?
Nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei mit tausenden Toten ist die weltweite Anteilnahme riesig. Viele Bürger machen sich auch Sorgen, wie wahrscheinlich eine solche Katastrophe in Deutschland ist. Doch Experten geben zum Großteil Entwarnung.
Obwohl Baden-Württemberg das seismisch aktivste Bundesland ist, droht nach Einschätzung von Fachleuten kaum ein so verheerendes Erdbeben wie in der Türkei. Erdbeben weit über der Stärke 7 seien sowohl am Oberrhein als auch auf der Zollernalb – den seismoligisch aktivsten Regionen – aufgrund der dortigen Struktur unwahrscheinlich, teilte Martin Hensch vom Landeserdbebendienst (LED) beim Regierungspräsidium Freiburg mit.
Für realistischere Beben um Magnitude 6 seien Gebäude hierzulande in der Regel zumindest so sicher, dass Menschen Zeit genug zum Verlassen bleibe, sagte Andreas Schäfer vom Geophysikalischen Institut (GPI) am Karlsruher Institut für Technologie der Deutschen Presse-Agentur.
Unterschiede zwischen Baden-Württemberg und der Türkei
"Am häufigsten und am stärksten treten Erdbeben weltweit an den Grenzen zwischen tektonischen Platten auf", erklärte Hensch vom LED. Man spreche von "Interplattenseismizität"; der Wortteil inter bedeutet zwischen. "Das ist auch jetzt in der südöstlichen Türkei der Fall, wo sich die anatolische und die arabische Platte horizontal zueinander verschieben."
Unter Baden-Württemberg verlaufen hingegen keine direkten Plattengrenzen. Die Region liegt auf der eurasischen Platte – ein gutes Stück nördlich der Plattengrenze.
Hier gebe es aber sogenannte Schwächezonen wie den Oberrheingraben und die Albstadtscherzone auf der Zollernalb, erläuterte Hensch. Dort würden Erdbeben hauptsächlich durch Druck der afrikanischen Platte auf die eurasische Platte erzeugt. Die Rede ist dann von "Intraplattenseismizität"; intra für innerhalb. Die Kollision der beiden Platten hat unter anderem auch die Alpen aufgefaltet. Die seismisch aktivsten Regionen in Baden-Württemberg seien der Oberrheingraben, die Zollernalb und die Bodenseeregion.
Auch wenn die Alb gerade zuletzt aktiver gewesen sei, habe der Oberrheingraben mehr Potenzial für stärkere Beben, sagte GPI-Forscher Schäfer. Er verglich die Beschaffenheit mit einer Serviette, die von einer Seite aufgefaltet wird: Der Oberrheingraben bilde ein große Furche, die Alb hingegen eher eine kleine Delle.
Erdbebenkatastrophen nicht ausgeschlossen
Dennoch sei die Aktivität im weltweiten Vergleich als moderat zu bezeichnen und keineswegs vergleichbar mit den Erdbebengebieten an tektonischen Plattengrenzen, betonte Hensch. "Schwache, in der Regel nicht spürbare Erdbeben werden in Baden-Württemberg täglich gemessen.
Durchschnittlich einmal pro Monat komme es auch zu lokal leicht spürbaren Erdbeben. Und etwa einmal pro Jahrzehnt sei hier mit mittelstarken Erdbeben zu rechnen, die regional zu Gebäudeschäden und Betriebsstörungen in größerem Umfang führen können.
"Starke Erdbeben mit katastrophalen Auswirkungen sind in Baden-Württemberg zwar sehr selten, aber nicht ausgeschlossen", erklärte der Experte. Ein Erdbeben wie jetzt in der Türkei sei aber im Südwesten nicht überliefert und nur schwer vorstellbar. Letztlich ließen sich Erdbeben jedoch nicht vorhersagen.
Besondere Beben in Baden-Württemberg
Die stärksten registrierten Erdbeben in Baden-Württemberg traten den Angaben zufolge auf der Albstadtscherzone 1911 (etwa Stärke 6), 1943 (etwa Stärke 5,7) und 1978 (etwa Stärke 5,7) sowie am Oberrheingraben zuletzt 2004 bei Waldkirch (Stärke 5,4) auf. "Historisch belegt sind aus den vergangenen Jahrhunderten Erdbeben um schätzungsweise Stärke 6, hauptsächlich am Oberrheingraben", so Hensch. Das stärkste überlieferte Erdbeben im Dreiländereck trat 1356 bei Basel auf. Die Stärke werde von verschiedenen Quellen auf etwa bis zu 6,9 geschätzt.
Bei Beben kleinerer Magnituden bis etwa 5,5 gleiche das Epizentrum eher einem Punkt, erklärte Schäfer vom GPI. Richtung Magnitude 6 gebe es Bruchflächen und dann Risse durch die Erdkruste, die ab Magnitude 7 eine Länge von 10, 20 oder 30 Kilometern haben könnten und bei 7,8 – in der Türkei waren es nun 7,7 – auch mal mehr als 100 oder 200 Kilometern. Beim Tsunami 2004 im Indischen Ozean sei die Bruchzone mehr als 1.000 Kilometer lang gewesen, sagte er. "Das ist Luftlinie die Strecke von Berlin nach Rom." Auch richte ein Beben nahe der Erdkruste mehr Schaden an als eines in deutlich tieferen Regionen.
Zur Einordnung: Skalen zur Messung von Erdbebenstärken sind logarithmisch. Das heißt, dass ein Erdbeben der Stärke 7,8 rund 20 bis 25 Mal stärker ist als eines der Stärke 6,9. Die maximale Stärke eines Erdbebens hänge maßgeblich von der Größe seiner Bruchfläche ab, erklärte Hensch – und diese sei durch die Ausdehnung der tektonischen Strukturen begrenzt. Daher werde davon ausgegangen, dass Beben weit über Stärke 7 in der Region Baden-Württemberg unwahrscheinlich sind.
Vorsorge wichtig unter anderem bei Bau
Da sich Ort, Zeitpunkt und Stärke von Erdbeben nicht vorhersagen lassen, bleibt Hensch zufolge lediglich eine Gefährdungsabschätzung für unterschiedliche Regionen. Dafür ziehen die Fachleute tektonische Strukturen und historische Erdbebenaktivität zurate. "Zielsetzung ist hier die bestmögliche Vorsorge", erklärte der Experte – etwa in Form von Bauvorschriften und Ablaufplänen für Behörden im Erdbebenfall.
Aus Sicht von GPI-Wissenschaftler Schäfer ist Deutschland mit seinen Gebäuden gut aufgestellt. "Selbst bei Magnitude 6 oder 6,5 dürften die meisten noch stehen", sagte er. "Mit teils erheblichen Schäden zwar, aber es dürfte nicht zu extrem hohen Todeszahlen kommen."
Als Vergleich nannte Schäfer das Erdbeben im neuseeländischen Christchurch 2011. Die Stadt sei in Architektur und Größe in etwa vergleichbar mit Karlsruhe. Bei dem Beben der Stärke 6,3 seien zwar rund 80 Prozent der Stadt mit Gebäuden aus Stahlbeton und Stein so zerstört wurden, dass sie wieder aufgebaut werden mussten. Aber nur 185 Menschen kamen ums Leben. "Die meisten in nur zwei Gebäuden."
Hilfreich seien Plattenbauten mit quer durchgehenden Betondecken, denen die horizontalen Schwingungen eines Bebens weniger ausmachten, sagte Schäfer. Auch Holz sei ein guter Baustoff. Zum einen sei das Material elastisch. Zum anderen wiege es weniger, was für Opfer in einem eingestürzten Haus sowie für deren Befreiung besser sei.
- Nachrichtenagentur dpa