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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Von "Shiny Flakes" zu "Candy Love" Kinderzimmer-Dealer erneut vor Gericht: Wo sind die Millionen?
Kiloweise Drogen gingen über die Kinderzimmer-Theken und machten Maximilian Schmidt reich und berühmt. Jetzt steht er zum zweiten Mal vor Gericht.
Er hatte keine Freundin, keine Freunde, keine Vorstrafen, konnte nach eigener Aussage kein Fahrrad fahren und lebte noch zu Hause bei seiner Mutter. Und trotzdem schaffte es Maximilian Schmidt aus Leipzig, innerhalb von 14 Monaten fast 1.000 Kilogramm Drogen zu verkaufen und damit mehr als vier Millionen Euro einzunehmen. Er bestellte und verkaufte seine Ware im Internet, verschickte sie dann per Post. "Ein ganz normaler Onlineshop, nur statt Schuhen halt Drogen", erklärte er später.
2016 wurde Schmidt zu sieben Jahren Jugendstrafe verurteilt, kam bereits nach vier Jahren und sieben Monaten frei. Seit diesem Montag steht der 28-Jährige nun zum zweiten Mal vor dem Landgericht Leipzig, zusammen mit vier weiteren Angeklagten – und wieder geht es um Drogenhandel. Aus dem einsamen Nerd ist im Gefängnis ein Bandenchef geworden. Offenbar erwies er sich auch wieder als hervorragender Drogenverkäufer – und als schlechter Krimineller.
Den ersten Shop nannte Schmidt "Shiny Flakes." Er verdiente nach eigenen Angaben damit schon im ersten Monat zwischen 10.000 und 15.000 Euro. Seinen Job als Kellner in einem italienischen Restaurant schmiss er bald hin. Als Spezialkräfte am 26. Februar 2015 mit Maschinenpistolen sein Zimmer in der elterlichen Wohnung im Stadtteil Gohlis stürmten, war Schmidt gerade mal 19 Jahre alt. Und reagierte darauf zunächst mit der gleichen Ungläubigkeit wie die Polizei, die eine bewaffnete Bande hinter "Shiny Flakes" vermutet hatte.
"Wir konnten uns bis zum Schluss nicht vorstellen, dass das eine Person alleine schaffen könnte", sagte der damalige Chef des Sächsischen Landeskriminalamtes Petric Kleine. "Dass ich mal erwischt werden könnte, habe ich mir nie vorgestellt", sagte hingegen Schmidt.
Zahlreiche Dokus über Schmidt
In der Justizvollzugsanstalt (JVA) Leipzig feierten die Mithäftlinge den telegenen Neuankömmling aus dem Plattenbau, der gerade noch bei RTL in den Abendnachrichten zu sehen gewesen war, mit Applaus. Die "Bild" taufte Schmidt "Kinderzimmer-Dealer" und stilisierte ihn zu einer Art Start-up-Genie. Netflix verwandelte Schmidt für die Erfolgsserie "How to Sell Drugs Online (Fast)" in einen liebeskranken westdeutschen Gymnasiasten mit dunklen Locken, später spielte sich der blonde Leipziger in dem Dokumentarspektakel "Shiny Flakes: The Teenage Druglord" selbst. Der Film erschien 2021 bei dem US-Streamingportal.
Inzwischen ist klar, dass Schmidt während seiner Haftzeit nicht nur einem Millionenpublikum haarklein erklären durfte, wie leicht man zum international agierenden Drogenbaron wird (und wie ungeschickt die Polizei offenbar agierte) – er arbeitete auch schon an seinem nächsten Projekt: Seinen neuen Onlineshop nennt er Candy Love – im Prinzip eine Kopie von "Shiny Flakes". Mit einem entscheidenden Unterschied: Weil Schmidt gelernt hatte, dass es für eine Person allein schwer zu schaffen war, so große Menge Drogen zu verkaufen, holte er sich Unterstützung. Doch auch das nützte nichts: Am 26. August 2020 wurde Schmidt zum zweiten Mal festgenommen.
Schmidt sei der "Kopf der Gruppierung" gewesen, so die Staatsanwaltschaft. Der 36-jährige Leipziger Friedemann G., der bereits wegen einer anderen Strafsache im Gefängnis sitzt, soll sich um logistische Fragen gekümmert haben, organisierte unter anderem eine Wohnung in der Prager Straße, um die Drogen zu bunkern sowie Fahrdienste, um die Postsendungen im Stadtgebiet verteilt in Briefkästen zu werfen.
Jurist soll Bande "rechtlich beraten" haben
Der 40-jährige Jens M. aus Leipzig und der 22-jährige Julius M. aus Frankfurt/Oder waren offenbar so etwas wie Hilfsarbeiter, haben laut Anklage "weisungsgemäß" die Bestellungen abgewickelt: Sie wogen laut der Vorwürfe Portionen ab, verpackten die Postsendungen und kümmerten sich um den Nachschub an Luftpolstertaschen, Druckverschlusstütchen, Briefmarken und vieles mehr. Außerdem sollen sie sich um die "Produktfotografie" des Onlineshops gekümmert haben.
Kurios ist der Fall des vierten Mitangeklagten: Es handelt sich dabei um einen Leipziger Rechtsanwalt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, die Candy-Love-Bande rechtlich beraten zu haben. Außerdem soll er sie dabei unterstützt haben, eine "legale Legende" zu entwickeln, wie Schmidt und Friedemann G. ihre Zeit in Wirklichkeit verbrachten.
Der Rechtsanwalt streitet jede Tatbeteiligung ab und erhebt schwere Vorwürfe gegen die Ermittlungsbehörden. Friedemann G. war sein Mandant in anderen Strafsachen. Die Vorwürfe im aktuellen Verfahren seien nicht nur unbegründet, sondern auch noch auf abgehörten Telefonaten zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten konstruiert – was ein Rechtsbruch der Ermittler darstellen könnte, da Rechtsanwälte wie Journalisten oder Pfarrer Berufsgeheimnisträger sind.
Wo sind die Millionen?
Laut Anklageschrift sollen die Candy-Love-Männer zwischen April 2019 und Januar 2021 rund 20 Kilogramm Drogen verkauft haben, darunter 369 Gramm Kokain, 5.715 Stück Ecstasy-Pillen, 1.945 Gramm MDMA und 477 Gramm Crystal Meth. Den Gesamterlös gibt die Staatsanwaltschaft mit 94.852 Euro an. Die Drogen seien in 471 Postsendungen verschickt worden – unter anderem an verdeckte Ermittler der Polizei. Dass es diesmal um eine wesentlich geringere Menge an Drogen geht, ist dabei weniger wichtig als die wesentlichen Fragen, die nach dem ersten Prozess unbeantwortet geblieben sind: Wo sind die Millionen?
Schmidt hatte all seine Lieferungen penibel dokumentiert, weshalb die Anklagebhörde recht umfangreich wissen will, dass die Einnahmen aus dem Drogenhandel bei 4,16 Millionen Euro lägen. Die Polizei konnte jedoch nur rund 350.000 Euro sicherstellen. Schmidt sagt zwar, es wäre kein weiteres Geld zu finden. Wahrscheinlich ist aber, dass er es umgewandelt in die Kryptowährung Bitcoin im Darknet versteckt hat.
Laut dem Vorsitzenden Richter Rüdiger Harr, der zum Prozessauftakt über die Inhalte der Vorbesprechungen der Prozessbeteiligten informierte, dürfte Schmidt mit etwa acht Jahren Haft rechnen müssen. Das Urteil wird nicht vor Juni erwartet.
Ist die Polizei chancenlos gegen Internetkriminelle?
"Es gibt keine Waffengleichheit zwischen Tätern und Polizei, gerade beim Tatmittel Internet nicht", sagte Ex-LKA-Chef Petric Kleine vor Prozessauftakt der Leipziger Volkszeitung. Schmidt verstand es offenbar meisterhaft, seine digitalen Spuren zu verwischen, unter anderem durch eine Vielzahl falscher Identitäten. Da er Internetserver privater Anbieter in den USA benutzte, stießen die Ermittler schnell an ihre Grenzen. Beigebracht habe Schmidt sich das alles selbst im Internet, sagt er. Dass die Polizei ihn überhaupt erwischte, verdankte sie extrem aufwendigen analogen Ermitteln und einem unvorsichtigen Kurier.
Dass sie Schmidts Computer nach dessen Festnahme knacken konnten, sei "eine Glanzleistung der IT-Forensiker des Landeskriminalamtes Sachsen" gewesen, behauptete Ex-LKA-Chef Kleine zunächst, nachdem die Polizisten darauf über 13.000 Datensätze fand. Gesichert sei dieses "mit einem sehr, sehr langen Passwort" gewesen. Dass es nicht ganz so war, musste Kleine später einräumen. Schmidt hatte das Passwort auf einen Zettel geschrieben, den die Ermittler im Papiermüll fanden.
Auf dem Desktop hatte der Kinderzimmer-Dealer auch noch eine Excel-Tabelle gespeichert, in die er fein säuberlich alle abgearbeiteten Bestellungen notiert hatte: Namen, Adressen, Zahlungen. "Einfach nur saudämlich gelaufen", so Schmidt. Diese Tabelle wurde die Grundlage für rund 4.000 Ermittlungsverfahren und Hunderte Strafprozesse im gesamten Bundesgebiet, zu denen Schmidt jeweils als Zeuge geladen war.
Dealer unterschreiben Arbeitsverträge
Seinem Image als "Teenage Druglord" schadete das kurioserweise nicht. "Das hatte zur Folge, dass ich nur noch auf Transport war, keinen Besuch empfangen konnte, keine Wäsche waschen konnte, keine Briefe empfangen konnte. Komplett isoliert", sagte Schmidt.
Auch im aktuellen Fall hat sich Schmidt selbst ein Bein gestellt: Er ließ seine Bandenmitglieder detaillierte Arbeitsverträge unterschreiben. Laut dem abgehörten und nun mitangeklagten Rechtsanwalt sei unter anderem genau das die Natur seiner rechtlichen Beratung für Friedemann G. gewesen.
- Eigene Beobachtungen vor Ort
- Eigene Recherchen