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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Prozess in Köln Mutter von abgemagertem Kind wohl "bindungsgestört"
Im Kölner Prozess um ein fast verhungertes Mädchen hat sich das Gericht mit der Psyche der Angeklagten beschäftigt. Auch eine Kinderkrankenpflegerin ist zu Wort gekommen – und widersprach vorherigen Aussagen.
An einem der letzten Verhandlungstage im Prozess gegen eine junge Mutter, deren Tochter fast verhungerte, hat sich gezeigt: Es werden die Feinheiten sein, auf die es bei der Urteilsfindung ankommt. Nach einem umfangreichen Verfahren, in dem zahlreiche Zeugen gehört wurden, muss die Elfte Große Strafkammer des Kölner Landgerichts bewerten, ob die Angeklagte ihrem Kind bewusst und in Tötungsabsicht das Essen versagte oder ob sie in einer Mischung aus Naivität, Ratlosigkeit und fehlendem Interesse die Situation unterschätzte.
Als einzige und voraussichtlich letzte Zeugin wurde am Mittwoch eine Kinderkrankenpflegerin gehört, die das Mädchen nach seiner Einlieferung in die Klinik betreut hatte. Entgegen vorheriger Darstellungen, nach denen die Mutter niemals zu einem Besuch im Kinderkrankenhaus erschienen sei, berichtete sie nun, sie am Bett der Kleinen gesehen zu haben. "Sie wollte ihr eine Laugenstange anbieten, aber wir haben ihr davon abgeraten, weil die Kleine schon viel gefrühstückt hatte", so die Zeugin.
"Sie hat sich auf das Bett ihrer Tochter gesetzt und sie per Video-Telefonie den Bruder anrufen lassen." Dokumentiert sei ihres Wissens nach mindestens ein Anruf, in dem die Angeklagte sich nach dem Befinden des Mädchens erkundigte, und ein anderer, in welchem die damals erneut schwangere Frau ausrichten ließ, dass sie wegen Übelkeit nicht zu Besuch kommen könne.
"Im Inneren des Sturms ist Ruhe"
Nach der Zeugenvernehmung befragten Richter und Anwälte noch einmal die Sachverständigen, welche vor der mehrtägigen Prozesspause ihre Gutachten vorgetragen hatten. Im Wesentlichen ging es dabei um die Mutter, die zusammen mit ihrem Lebensgefährten angeklagt ist. Psychologe Hanns Jürgen Kunert hatte bei beiden eine Alexithymie diagnostiziert, ein Unvermögen auf emotionaler Ebene. Im Zusammenhang mit der Angeklagten sprach er auch von "schizoid".
Verteidiger Markus Gebhardt wollte vom Gutachter wissen, wie seine Mandantin diese Veranlagung selbst erlebe. Der sprach sich dafür aus, weniger den Fachbegriff "schizoid" zu nutzen – zumal diese Charaktereigenschaft bei der Angeklagten nicht pathologisch schwerwiegend sei. Besser möge man sie im umgangssprachlichen Sinne mit dem Wort "introvertiert" beschreiben. Zur Frage, wie die Angeklagte die schwierige Konstellation ihres Wesens selbst erlebe, zitierte Kunert einerseits den Satz "Im Inneren des Sturms ist Ruhe", sie nehme sich als normal wahr, andererseits sagte er jedoch auch: "Auf Druck reagiert sie mit Stress, mit der Manipulation ihres Umfeldes, um den Stresspegel zu reduzieren."
Ursachen für Persönlichkeit schwer zu ermitteln
"Gibt es Erkenntnisse dazu, wo diese Persönlichkeit herkommt?", wollte der Verteidiger wissen. Psychologe Kunert räumte ein, sich damit nicht beschäftigt zu haben: "Ich kann ableiten, dass eine Bindungsstörung da ist, aber woher sie kommt, lässt sich im Nachhinein schlecht explorieren." Generell seien unterschiedliche Ursachen denkbar – von frühkindlichen Erlebnissen bis hin zu Eltern, die selbst Bindungsstörungen haben.
Psychiaterin Konstanze Jankowski äußerte dazu: Von Bruder, Mutter und Stiefvater habe man erfahren, dass die Angeklagte schon in ihrer Kindheit und Jugend "den Beginn einer dissozialen Entwicklung" gezeigt habe.
Auch auf vermeintliche Zeugenaussagen des leiblichen Vaters wollte sie eingehen. Daraufhin wandte sich die Angeklagte, sonst meist reglos, mit einer schnellen Drehung ihrem Anwalt zu, der auch prompt die Sachverständige auf ihren Fehler hinwies: "Den leiblichen Vater haben wir hier nicht gehört."
Gutachterin legt Arzttermin zum Nachteil der Angeklagten aus
Jankowski machte noch einmal deutlich, dass nach ihrer Einschätzung die Angeklagte weder aufgrund ihrer psychischen Konstellation noch infolge von Cannabis-Konsum zu passiv gewesen wäre, um sich um ihr Kind zu kümmern: "Sie zeigte ja kein durchgängig passives Verhalten, sondern war zum Beispiel auch in der Lage, das Cannabis zu holen."
Auch den Hinweis des Verteidigers, dass seine Mandantin den körperlichen Abbau ihrer Tochter keineswegs einfach habe geschehen lassen, sondern für Anfang September einen Arzttermin vereinbart hatte, legte die Gutachterin zum Nachteil der Angeklagten aus: "Das zeugt doch gerade von Aktivität." Am Freitag dieser Woche stehen die Plädoyers an. Das Urteil ist für den 31. Mai anberaumt.
- Eigene Beobachtungen im Gerichtssaal