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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Unklare Beweislage Rätsel im Prozess um versuchten Totschlag
Vor dem Kölner Landgericht muss sich derzeit ein 47-Jähriger wegen versuchten Todschlags verantworten. Mit einem großen Messer soll er einen Mann angegriffen haben. Einige Schilderungen werfen allerdings Zweifel auf.
Ein Kapitaldelikt mit vielen offenen Fragen beschäftigt derzeit die elfte Große Strafkammer des Kölner Landgerichts. Angeklagt ist ein 47-jähriger Schweißer, dem die Staatsanwaltschaft versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung vorwirft. Laut Anklage hat er am 7. Juni 2020 einem anderen Mann infolge eines Streites in einer Wohnung in Brühl sieben Schnittwunden mit einem Messer beigebracht, dessen Klinge 15 Zentimeter lang war. Das Opfer verlor durch Verletzungen im Hals- und Nackenbereich sehr viel Blut und schwebte in Lebensgefahr, konnte aber gerettet werden.
Die Schilderungen der mutmaßlichen Tat möchten so gar nicht zu dem Bild passen, dass der Angeklagte vor Gericht abgab. Der hochgewachsene Mann mit schlichten, aber sanften Gesichtszügen saß in gebeugter Haltung neben seiner Verteidigerin Lena Retschkemann. Auch den Kopf hielt er meist leicht nach vorne gebeugt – fast, als wolle er sich für seine Größe entschuldigen. Beim Zuhören ließ er den Blick oft aus dem Fenster schweifen, wendete ihn bei seinen Antworten jedoch meist direkt der Vorsitzenden oder den anderen Prozessbeteiligten zu.
Aktenlage wie ein Puzzle
"Wie groß sind Sie?", wollte die Vorsitzende Richterin wissen. Der Angeklagte gab an, etwas über zwei Meter groß zu sein. Auch die Frage nach seiner Schuhgröße beantwortete er, wenn auch etwas erstaunt. Zu den Tatvorwürfen schwieg er, machte aber Angaben zu seiner Person. "Ich bin nach Deutschland gekommen, weil meine ganze Familie hier lebt", so der in Kasachstan geborene Mann. In Deutschland habe er als Staplerfahrer gearbeitet, er sei verwitwet und habe allein bei seinem Bruder gelebt – bis zur mutmaßlichen Tatnacht. Seither sitzt er in Untersuchungshaft.
Was in jenen Stunden passiert ist, sei schwer zu rekonstruieren, sagte seine Anwältin: Die Aktenlage sei "wie ein Puzzle". Nicht einverstanden war sie damit, dass als erster Zeuge der Polizeibeamte gehört wurde, der den Angeklagten in der Nacht vom 7. auf den 8. Juni zuerst vernommen hatte: "Das ist bequem, aber suggestiv", kritisierte sie. Richtiger sei es, erst andere Zeugen zu hören. Der Angeklagte war in der Tatnacht selbst zur Polizei gegangen, war allerdings mit 1,78 Promille stark alkoholisiert, insofern nur bedingt in der Lage, eine verlässliche Aussage zu machen.
Befragung ohne vereidigten Dolmetscher
Retschkemann kritisierte auch, dass die Befragung in der Tatnacht gar nicht in dieser Form hätte stattfinden dürfen: Der Polizeibeamte, selbst ein Einwandererkind mit russischen Wurzeln, aber seit seinem sechsten Lebensjahr in Deutschland, hatte den Angeklagten in russischer Sprache zur Tat befragt. "Er ist kein vereidigter Dolmetscher", kritisierte die Strafverteidigerin. Zudem sei aus der Akte nicht nachvollziehbar, ob der Angeklagte wirklich darüber belehrt wurde, dass er sich nicht selbst belasten müsse. Nach Angaben des Polizeibeamten schilderte der 47-Jährige in der fraglichen Nacht, dass das spätere Opfer ihn angriff, woraufhin er schließlich dessen fortwährende Attacken abgewehrt habe.
Hingegen gab die psychiatrische Gutachterin an, dass er zu ihr sagte: "Ich habe das Messer gar nicht in der Hand gehabt." Das wiederum passt zur Einschätzung eines daktyloskopischen Sachverständigen, also eines Gutachters, der Fingerabdrücke und andere Spuren am Tatort sicherte: Demnach sind auf dem Messer Spuren einer anderen Person, nicht aber solche, die zum Angeklagten passen. Am nächsten Prozesstag sollen Zeugen, die in der Tatnacht vor Ort waren, und die gerichtsmedizinische Gutachterin gehört werden. Das Urteil wird für den 25. Januar erwartet.
- Anwesenheit beim Gerichtsprozess