Kriminologe erklärt Fall Attendorn Was war das Motiv der Mutter?
Der Fall des Mädchens, das in Attendorn von seiner Mutter gefangen gehalten wurde, gibt Rätsel auf. Kriminologe Christian Pfeiffer gibt erste Einschätzungen.
Nachdem bekannt wurde, dass ein Mädchen in Attendorn sechs Jahre lang in seinem Kinderzimmer festgehalten worden war, sind noch viele Fragen offen: Warum haben die Mutter und die Großeltern des Kindes die heute Achtjährige eingesperrt? Und wieso ist der Fall nicht schon früher publik geworden?
Immerhin habe es in der Vergangenheit anonyme Hinweise beim Jugendamt gegeben, wie die Deutsche Presse-Agentur am Montag berichtete. Vor zwei Jahren und vor einem Jahr seien etwa zwei Hinweise eingegangen. Das erklärte Michael Färber, der Fachbereichsleiter des Jugendamtes für den Kreis Olpe, auf dpa-Anfrage. "Wir sind dem sofort nachgegangen, aber es gab keine stichhaltigen Hinweise oder konkreten Anhaltspunkte, dass sich das Mädchen dort aufhielt."
Kriminologe: "Der erste Verdacht ist eine psychische Störung"
Gegen die Mutter des Kindes und die Großeltern ermittelt nun die Siegener Staatsanwaltschaft wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Die Mutter meldete sich im Sommer 2015 aus Attendorn ab und gab für sich und ihre Tochter als neuen Wohnort eine Adresse in Italien an. Dennoch blieb sie mit ihrer Tochter in Attendorn wohnen.
Warum die Mutter jedoch ihre Tochter von der Außenwelt abschottete, ist weiterhin unklar. Schließlich schweigen sowohl die ebenfalls beschuldigten Großeltern des Kindes als auch die Mutter beharrlich.
Kriminologe Christian Pfeiffer erklärt auf Anfrage von t-online, dass die Tat womöglich durch eine psychische Störung der Mutter zu erklären sei. "Das ist der erste Gedanke, den ich bei einer solchen Geschichte habe. " So sei es vorstellbar, dass die Mutter von Angstzuständen geplagt wurde und versuchte, ihre Tochter durch das Einschließen vor den "Gefahren der Außenwelt zu schützen", sagt Pfeiffer. "Eine andere Möglichkeit liegt darin, dass die Mutter einen ausgeprägten Besitz- und Kontrollanspruch gegenüber dem Kind hegte. Aber schließlich bleibt auch die Option, dass die Mutter im Konflikt mit dem Vater lebt und ihr Verhalten als Abwehr gegenüber dem Einfluss des Vaters zu werten ist."
Dauer der Gefangenschaft besonders erschreckend
Bei allen Möglichkeiten handele es sich laut dem Psychologen um "psychisch absonderliche Verirrungen", die durchaus vorkämen. Pfeiffer selbst aber sei so ein Fall in seiner Laufbahn noch nicht begegnet: "Wenn Kinder von Männern festgehalten werden, ist das in der Regel sexuell motiviert. So einen Fall wie den in Attendorn kenne ich jedoch nur aus der Literatur." Besonders erstaunlich und erschreckend sei die Dauer der Gefangenschaft.
Auch unterstreicht der Kriminologe, dass die Rolle des Jugendamtes zu klären sei. Besonders da das Mädchen schulpflichtig gewesen ist.
Kind soll vorerst Kontakt zur Mutter halten
Inzwischen hat sich auch der Kinderschutzbund NRW zum Fall des achtjährigen Mädchens geäußert: So sagte die Mitarbeiterin Nicole Vergin gegenüber der dpa, dass die Grundbedürfnisse des Mädchens augenscheinlich ebenso missachtet worden seien wie grundlegende Kinderrechte auf Bildung, Spielen oder soziale Kontakte. Das werde laut Vergin Auswirkungen auf die mentale, psychische oder auch motorische Entwicklung des Kindes haben.
Auch der Kriminologe Pfeiffer gibt zu bedenken, dass sich das Eingesperrtsein negativ auf die psychische Entwicklung des Kindes auswirken könne. Gerade weil neueste Berichte nahelegen, dass sich das Mädchen durchaus seiner Lage bewusst gewesen sei und gewusst habe, dass es eine Welt außerhalb seines Kinderzimmers gab. "Wenn es wirklich rigoros von der Außenwelt abgeschottet wurde, dann wäre es etwas anders gewesen", sagt Pfeiffer.
Keine Hinweise auf Misshandlung
Der Kinderschutzbund hatte ebenfalls angemerkt, dass dem Kind ein begleiteter Kontakt zu seiner Mutter und den Großeltern ermöglicht werden sollte. Immerhin seien die drei Erwachsenen die einzigen Bezugspersonen des Mädchens, das sonst keine Menschen gekannt hat. Zur Rechenschaft ziehen müsse man die Verwandten der Achtjährigen aber natürlich trotzdem.
Bisher scheint es im Falle des Mädchens zudem keine Hinweise auf eine körperliche Misshandlung oder Unterernährung zu geben. Dennoch will Pfeiffer hier keine voreiligen Schlüsse ziehen: "Wenn das Kind in der Gefangenschaft Gewalt oder andere Misshandlungen erfahren hat, wäre ein radikaler Bruch mit der Familie der richtige Weg." Um das jedoch zu beurteilen, seien noch zu viele Fragen ungeklärt, meint der Kriminologe.
- Persönliches Gespräch mit Dr. Christan Pfeiffer
- Material der Nachrichtenagentur dpa