Log sie über Brokstedt-Angreifer? Justizsenatorin hielt Fakten zu Ibrahim A. zurück
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Im Zusammenhang mit der Messerattacke von Brokstedt mit zwei Todesopfern gerät zunehmend die Informationspolitik der Hamburger Justiz um Ibrahim A. ins Zwielicht.
Schon kurz nach dem tödlichen Angriff im Regionalexpress RE 70 am 25. Januar begann zwischen den Behörden und Parlamenten mehrerer Bundesländer eine Auseinandersetzung um die Verantwortung für den tödlichen Zwischenfall. In Hamburg schien man sich auf eine Sprachregelung geeinigt zu haben, die an Medienvertreter kommuniziert wurde und so auch in der Hamburger Bürgerschaft zu den Hintergründen des tödlichen Angriffs mitgeteilt wurde. Doch die stellt sich immer mehr als unhaltbar heraus.
Auf eine Anfrage von t-online schrieb die Hamburger Behörde für Justiz und Verbraucherschutz am 31. Januar, dass "keine rechtliche Grundlage" bestanden habe, Ibrahim A. nach Aufhebung der Untersuchungshaft länger festhalten zu können. Und noch am 2. Februar wurde dies wortgetreu im Zusammenhang mit der Befassung der Bürgerschaft zu Ibrahim A. in einer eigens hergestellten "Faktensammlung" mitgeteilt. Darin wird zudem unmissverständlich kommuniziert, dass während der Inhaftierung keine Anhaltspunkte für eine Eigen- oder Fremdgefährdung vorgelegen hätten.
Ibrahim A.: Verhalten in Haft offenbarte seine Gefährlichkeit
Im Haftprotokoll, das der zuständigen Staatsanwaltschaft in Itzehoe übermittelt wurde, sind jedoch tatsächlich zahlreiche Anhaltspunkte für ein ganz anderes Verhalten des mutmaßlichen Mörders von Brokstedt enthalten. So soll der 33-jährige A. nicht nur am 6. August unmissverständlich darauf hingewiesen haben, dass auch er "ein Anis Amri" sei und so mittelbar mit einem Anschlag wie dem auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016 gedroht haben. Sein gesamtes Verhalten machte ihn regelrecht zu einem "Problemgefangenen", wie "Bild" berichtete:
- Über Monate randalierte Ibrahim A. nachts in seiner Zelle, zerstörte Inventar und hielt mit lautem Rufen, Klatschen und Lachen die Mitinsassen vom Schlafen ab.
- Ibrahim A. klagte ganz offiziell über Depressionen und wirkte verwirrt.
- Im Sommer 2022 kam es zu einer Schlägerei mit einem Mitgefangenen.
- Kurz danach griff Ibrahim A. einen Justizbeamten tätlich an.
- Er verweigerte teilweise die Fortführung seiner Methadontherapie und lehnte Körperpflege ab.
In einer hektisch anberaumten Pressekonferenz teilte Senatorin Anna Gallina (Grüne) am Montag mit, dass diese Informationen der Behördenleitung bereits seit 25. Januar vorgelegen hätten, man diese jedoch aus "ermittlungstaktischen Gründen" nicht mitgeteilt habe, um die weiteren Ermittlungen nicht zu gefährden.
Haftentlassung war nicht alternativlos
Allerdings waren die schriftlich mitgeteilten Antworten auf Presseanfragen und die "Faktensammlung" der Behörde für Justiz und Verbraucherschutz nicht lückenhaft, sie behaupteten schlicht das exakte Gegenteil dessen, was seit Sonntag eingeräumt werden musste – ein erheblicher Unterschied zu "Ermittlungstaktiken". "Die Argumentation mit den strafrechtlichen Ermittlungen ist absolut fadenscheinig", kritisierte CDU-Fraktionsvorsitzender Dennis Thering im NDR und warf Gallina vor, wissentlich gelogen zu haben.
- Messerattacke in Brokstedt: Landtag zitiert Hamburger Behörden nach Kiel
Und auch mit angeblich fehlenden rechtlichen Gründen, Ibrahim A. weiterhin festhalten zu können, ist es nicht weit her: Die Angaben der Justizbehörde zu einer angeblich zwingend notwendigen Freilassung von Ibrahim A. nach Aufhebung der Untersuchungshaft beziehen sich ausschließlich auf strafprozessuale Maßnahmen. Neben dem Strafrecht bestand jedoch eine weitere rechtliche Grundlage für einen möglichen Freiheitsentzug: das Hamburgische Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (HmbPsychKG).
Arzt: Übergriffe reichen aus, um Zwangseinweisung zu begründen
In diesem Gesetz ist geregelt, wie bei der Unterbringung psychisch Kranker zu verfahren ist, wenn diese eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellen. Entsprechend dazu führt die Arbeitsgemeinschaft Norddeutscher Notärzte in ihren Therapieempfehlungen 2022 für Notfallmediziner in Norddeutschland allgemein aus: "Bestehen Hinweise darauf, dass der Patient sich selbst (…) oder seine Mitmenschen gefährdet (…), so ist der Patient gegen seinen Willen notfalls mit polizeilicher Gewalt in Gewahrsam zu nehmen (…)."
Schon Hinweise auf Bedrohungen hätten also ausgereicht, um Ibrahim A. weiterhin festzuhalten zu können. Peer Knacke, Sektionsvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Norddeutscher Notärzte für Hamburg und Schleswig-Holstein und erfahrener Notfallmediziner, bestätigt t-online: "Konkrete Drohungen von Gewalttaten oder gewalttätige Übergriffe mit Fremd- oder Eigengefährdung reichen allgemein als Tatsachen bei einem Akutgeschehen vollkommen aus, um eine Zwangseinweisung und eine psychiatrische Untersuchung begründen zu können."
Justizbehörde: Psychiater dementierte Eigen- oder Fremdgefährdung
Hätte Ibrahim A. also nicht in ein psychiatrisches Krankenhaus gehört, nachdem seine Auffälligkeiten in der Untersuchungshaft festgestellt worden waren? Eine Möglichkeit, deren Unterlassen die Hamburger Justiz auf Presseanfragen und in der Hamburger Bürgerschaft nicht thematisierte und lieber das Strafrecht in den Mittelpunkt der Diskussion stellte.
Konfrontiert mit dem Vorwurf, zu den Rechtsgrundlagen für eine Freiheitsentziehung am 31. Januar die Unwahrheit mitgeteilt zu haben, heißt es: "Eine Eigen- oder Fremdgefährdung wurde durch den behandelnden Psychiater zuletzt einen Tag vor der Entlassung des Untersuchungsgefangenen verneint."
Dass diese Einschätzung fatal war und im völligen Widerspruch zu dem Verhalten von Ibrahim A. während der Haftzeit stand, zeigte sich am 25. Januar in Brokstedt. Dass diese Einschätzung jedoch nicht der Wahrheit entsprechen kann, ist offensichtlich: Nach einem Angriff auf einen Justizbediensteten im September 2022 wurde Ibrahim A. im "besonders gesicherten Haftraum" untergebracht – wegen der Fremd- und Eigengefährdung.
- Eigene Recherchen
- Interview mit Dr. Peer Knacke am 7. Februar 2023