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"Der Pöbel kommt" – mit dem 9-Euro-Ticket nach Sylt


Mit dem 9-Euro-Ticket an die Küste
"Der Pöbel kommt": Punks und Malle-Feeling auf Sylt

Von Jannis Große, Sylt

Aktualisiert am 07.06.2022Lesedauer: 6 Min.
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So kennen Sylt-Urlauber die Insel sonst nicht: Punks feiern am Samstag in der Fußgängerzone von Westerland. (Quelle: t-online)

9-Euro-Ticket, Pfingsten und ein Vorgeschmack auf die "Chaos-Tage" auf Sylt: Eine Reportage über Zugausfälle, zahlreiche Passagiere – und eine Menge Punks, die Sylt einmal zeigen wollen, dass sie existieren.

Sandstrände, Dünenlandschaften und unzählige touristische Angebote locken jedes Jahr Hunderttausende überwiegend deutsche Urlauberinnen und Urlauber auf die Nordseeinsel Sylt. Rund 62.500 Gästebetten kommen hier auf die knapp 20.000 Einwohner. Durch das 9-Euro-Ticket könnten es in diesem Jahr sogar noch mehr Touristen werden – nicht zuletzt auch wegen der medialen Aufmerksamkeit, die Sylt im Zusammenhang mit dem Ticket in den jüngsten Wochen bekam: Die Sorge der Insulaner vor zu viel Tourismus hatte in den sozialen Medien zu zahlreichen Provokationen geführt, Punks hatten "Chaos-Tage" angekündigt.

Die Reise nach Westerland beginnt für viele Fahrgäste am Samstagmorgen in Hamburg-Altona mit dem Klischee-Chaos der Deutschen Bahn. Wegen einer "Reparatur am Zug" fällt die Fahrt aus. Mit Koffern und Rucksäcken bepackt müssen die Reisenden, die schon ungeduldig auf ihren Zug warten, auf Gleis 12 ausweichen. Dort fährt zehn Minuten später noch ein Zug nach Sylt – allerdings mit deutlich mehr Zwischenhalten.

Chaos auf dem Weg nach Sylt: "Warum sind wir nicht nach Malle geflogen?"

Auf der Insel hat man sich auf die zusätzlichen Besucherinnen und Besucher eingestellt. Auf der offiziellen Sylt-Webseite haben die Behörden die wichtigsten Informationen zum Ticket zusammengefasst. Das Problem: Der Hindenburgdamm, der die Insel mit dem Festland verbindet, ist ein Nadelöhr mit einer begrenzten Kapazität für Zugverbindungen.

Auch die Züge selbst haben nur begrenzten Platz und der wird schon am Vormittag knapp. "Entspannt reisen" steht im Regionalexpress nach Westerland an der Tür zur ersten Klasse. Ein Slogan, der heute nur für eine Seite gilt. In der zweiten Klasse sitzen und stehen die Fahrgäste auf den Gängen. "Warum sind wir nicht nach Malle geflogen?", fragt ein junger Mann scherzend seine drei Begleiter, die vor der Tür zur ersten Klasse Platz gefunden haben. Mit gut 20 Minuten Verspätung erreicht der Regionalzug Westerland – der Streckenabschnitt zwischen Niebüll und Sylt war noch belegt.

Die Kapazitätsgrenzen des Hindenburgdamms sprach Moritz Luft, Geschäftsführer von Sylt Marketing, auch schon vor einigen Wochen an, was Witze in sozialen Medien befeuerte. "Manches ist ja offensichtlich nicht so rübergekommen, wie es gemeint war", erklärte er in einer Pressemitteilung Ende Mai. Es sei nicht darum gegangen, dass die Insel nur bestimmte Gäste wolle.

Sylt gilt als Insel der Reichen. Die Immobilienpreise steigen hier seit Jahren und liegen weit über den Preisen von Hamburg oder München. Die Insel wirbt unter anderem mit Golfplätzen, Gourmetrestaurants und einer "Luft wie Champagner". Auch die Übernachtung in Hotels und Pensionen liegt bei mehreren Hundert Euro pro Nacht. Ein erheblicher Teil der Urlauber ist deshalb wohl kaum auf günstige Bahnabos angewiesen.

Ansturm auf Sylt: 9-Euro-Ticket zieht auch ungewohntes Klientel an

Keine zwei Meter aus dem Zug und schon ploppen am Bahnhof in Westerland die ersten Bierflaschen, man hört eine Hupe und Grölen. Touristen mit Koffern und Designerkleidung laufen neben Punks und Partyvolk zum Bahnhofsausgang. Aus den ersten Bluetooth-Boxen dröhnt Musik. Zwei Polizisten beobachten die Ankunft des Zugs.

Auch drei junge Hamburger sind für einen spontanen Zelturlaub nach Sylt gekommen. "Jetzt mit dem Neun-Euro-Ticket ist natürlich alles einfacher", erzählt Daniel. Die drei machen dieses Jahr Abi und wollen einfach mal schauen, was am Wochenende so auf Sylt los ist. Auch der viel zitierte Ansturm auf Sylt war ein Grund für die drei hierherzukommen. "Hier ist es ja eigentlich ganz schön", sagt Daniel lachend.

Eine Gruppe Feiernder singt "Wir feiern Malle jetzt auf Sylt", während sie in Richtung Fußgängerzone läuft. Dort sitzen gut 70 Punks auf dem Boden vor einem Supermarkt, trinken Dosenbier und hören Punkrock – ausgerechnet in dem Bereich, in dem der Verzehr von Alkohol auf öffentlichen Flächen verboten ist. "Wer glotzt kann auch spenden" steht auf einem Pappschild. Es ist das typische Bild einer Gruppe von Punks. Man sieht bunte Haare, Menschen mit Iros sowie Lederjacken und Kutten mit politischen Patches wie "Fuck the world and the upperclass" (zu Deutsch: "Fick die Welt und die Oberschicht”) oder einem großen Schriftzug “Undeutschlich".

70 Punks besetzen Platz: "Es ist ein Augenschmaus, diese Leute zu sehen, die das so gar nicht kennen"

"Das Anliegen ist vor allem, Zeit miteinander zu verbringen, und der Insel, die ja doch ziemlich bonzig ist, zu zeigen, dass es auch anders geht: einfach mal das Leben auf sich zukommen zu lassen", erzählt ein 17-jähriger Punk, der sich Axel Spangenjäger nennt. Seine Haare sind zu einem Iro aufgestellt, die Seiten kurz rasiert. Er trägt eine schwarze Kutte mit linken Ansteckern und Aufnähern.

Auch der Punk Linus sagt, dass es in ihnen wichtig sei, mal zu zeigen, dass sie existieren. "Das 9-Euro-Ticket gibt uns eine gute Möglichkeit, durch die Gegend zu fahren. Viele hier kennen sich von Konzerten in den autonomen Zentren, die es überall gibt", erzählt Linus. "Sylt hat so was nicht, es ist irgendwie abgeschieden und bonzig, deswegen sind wir jetzt einfach mal hier", führt er fort. "Es ist ein Augenschmaus, diese Leute zu sehen, die das so gar nicht kennen", sagt Axel und lacht. Er habe aber auch schon Leute getroffen, die sich darüber gefreut haben, dass "der Pöbel kommt".

Viele Passanten zeigen im Vorbeilaufen ihre Verwunderung und ihr Unverständnis. So auch ein älteres Ehepaar, das zweimal im Jahr auf Sylt Urlaub macht und lieber anonym bleiben will. "Die können feiern, wenn sie friedlich sind. Dann habe ich nichts dagegen, wenn die sich mal ein Wochenende lang hier aufhalten", sagt die Frau. Die beiden Touristen haben so etwas noch nicht auf Sylt erlebt und hoffen, dass sich der Besuch auf das Pfingstwochenende beschränkt.

Kontrastprogramm Punk: Eine Attraktion für Anwohnende und Stammtouristen

"Auf Dauer würde ich das nicht gerne haben wollen", erklärt die Frau. "Weil das nicht zu Sylt passt", ergänzt ihr Mann. Ihn stört vor allem, dass die Punks so demonstrativ in der Innenstadt sitzen. "Ich verweigere denen Sylt auf keinen Fall, nur das muss nicht mitten in der Innenstadt sein", sagt er.

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Hier in der Fußgängerzone von Westerland treffen Welten aufeinander. Während die gut besuchten Restaurants und Cafés von Menschen in Designermode geprägt sind, kreuzen immer wieder junge Menschen mit großen Rucksäcken, Schlafsäcken und Bluetooth-Boxen die Wege. Unweit von Läden, in denen man eine Strickjacke für 459 Euro kaufen kann, sitzen Punks auf der Straße und schnorren nach Geld und Bier. Die ungewöhnlichen Inselgäste sind für viele Passanten eine Art Attraktion.

Sie zücken ihre Smartphones und filmen – fast wie bei einem Zoobesuch. Die Punks antworten mit Mittelfingern, dem Aufruf, Geld zu geben, oder indem sie den Passanten mit gezücktem Handy hinterherrennen.

Das große Kontrastprogramm zu den bunten Punks bietet Kampen, ein Ort rund sechs Kilometer nördlich von Westerland. Hier stehen Dutzende Luxusautos geparkt, ein Sicherheitsdienst bewacht den Zugang zu Bars. Die Restaurants servieren Kartoffelrösti mit Kaviar für schlappe 54 Euro. Und auch hier wird gefeiert. Nur hört man hier eben andere Musik, trinkt anderen Alkohol, trägt andere Kleidung und zeigt den Luxus, den man sich leisten kann.

Pfingstwochenende erst der Anfang des 9-Euro-Tourismus auf Sylt

In Telegram-Gruppen zum 9-Euro-Ticket wird dazu aufgerufen, die Orte sauber zu hinterlassen. So schreibt ein Admin: "Passt auf euch auf und benehmt euch besser, als die es erwarten." Tatsächlich bleibt es ruhig, die meisten 9-Euro-Urlauber scheinen den Samstag in Westerland zu bleiben. Nur der gelbe Streifen einer Deutschlandfahne muss in der Fußgängerzone dran glauben.

Am Strand sieht man kleine Gruppen in gemieteten Strandkörben, andere spielen Flunkyball oder hören über Boxen Musik. Auch viele ältere Urlauber sind hier am Strand zu finden, die ihren Urlaub im Strandkorb genießen. Etwas außerhalb des Ortes hört der Trubel schnell auf, man hört die Wellen rauschen.

Auch am Samstagabend reisen noch Gruppen nach Sylt, einige haben extra T-Shirts bedrucken lassen für den Urlaub auf der Nordseeinsel. Und auch der politische Protest gegen den Wohlstand der Insel wird wohl in den kommenden Monaten noch lauter werden. Für Anfang August kursieren Termine für die sogenannten "Chaostage" auf Sylt, das Bündnis für Umverteilung "Wer hat, der gibt", das bereits mehrfach in den wohlhabenden Stadtteilen Hamburgs demonstriert hat, mobilisiert am 16. Juli zu vielfältigen Protestaktionen nach Sylt.

Aus ihrer Sicht ziehen sich die Reichen bei Klimakrise, Inflation und Pandemie aus der Verantwortung. "Sie flüchten in ihre Feriendomizile und lassen die Champagner-Korken knallen", erklärt die Sprecherin Carlotta Schmidt. Und auch ein Camp gegen Gentrifizierung soll es diesen Sommer hier geben. Entgegen der Hoffnung des Ehepaars dürfte das Pfingstwochenende somit erst der Anfang des 9-Euro-Tourismus sein.

Verwendete Quellen
  • Reporter vor Ort
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