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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Flucht aus Kriegsgebiet Plötzlich Glück in Deutschland: Zwei Ukrainerinnen berichten
In nur wenigen Tagen finden zwei Ukrainerinnen im Frankfurter Raum eine Wohnung. In Bad Homburg, einer der wohlhabendsten Städte Deutschlands. Trotz massiver Probleme der Region, die Geflüchteten unterzubringen. Wie haben sie das geschafft?
Anzhelika Olefirenko kämpft mit den Tränen. Sie sitzt im Wohnzimmer am Esstisch bei Sabine Nietmann. Zehn Tage hat sie hier mit ihrer Mutter Svitlana Shevchenko gewohnt. Es ist erst zwei Wochen her als Mutter und Tochter von Kiew nach Frankfurt flüchteten.
Fünf Tage waren sie unterwegs. Anzhelikas Tochter Daria lebt seit zwei Jahren in Frankfurt. Sie übersetzt während des Gesprächs. In Frankfurt sind die drei Frauen wieder vereint. Doch Darias Vater und Anzhelikas Ehemann musste in der Ukraine bleiben.
Svitlana kann kaum schlafen. Sie wacht nachts auf, dann liest sie die Nachrichten auf ihrem Handy. Anzhelikas Ehemann war bei der Armee und ist Leutnant der Reserve. Er wartet nun auf seinen Einsatz. "Du kannst nicht glücklich sein. Du bist nur gestresst", sagt auch Daria.
Täglich steigt die Zahl der ankommenden Flüchtlinge in Frankfurt. Die Stadt richtete Notunterkünfte ein, viele Hotels bieten Unterkünfte an. Im gesamten Rhein-Main-Gebiet gibt es unzählige private Initiativen, die sich um Unterbringungen sorgen, zudem Plätze in Unterkünften bei den großen Trägern.
Nun benötigen womöglich bald Hunderttausende Ukrainer eine Wohnung. Es droht eine verschärfte Wohnungsnot in den Städten. Denn schon bisher taten sich Flüchtlinge sehr schwer, in deutschen Großstädten eine Unterkunft zu finden. Es droht ein Verdrängungswettbewerb. Deutschland benötige deshalb schon bald bis zu 500.000 zusätzliche Wohnungen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie im Auftrag des Spitzenverbandes der Immobilienwirtschaft ZIA
Ukrainische Frauen in Frankfurt: "Der Krieg ist nach Deutschland gekommen"
Wenn Svitlana in Frankfurt vor dem Haus die Straßenbahn hört, denkt sie, dass nun Bomben fallen. Der Krieg ist nach Deutschland gekommen, sagen sie. "Wenn ich zum Hauptbahnhof gehe, dort mit Ukrainern rede, die nächtelang nicht geschlafen haben, die nicht wissen, wo sie hingehen sollen oder sich krank fühlen. Dann ist der Krieg auch hier."
Krieg, Flucht, Hilfsbereitschaft – es ist wohl kaum vorstellbar, welche emotionale Achtberbahnfahrt die Frauen derzeit durchleben. "Wir weinen viel, aber wir lachen auch. Es geht mit den Emotionen immer bergauf und bergab", erzählt Daria.
Über zwei Millionen Menschen sind seit Beginn des Krieges aus der Ukraine geflohen. Zwischen dem 24. Februar und dem 15. März 2022 wurden nach Angaben des Bundesinnenministeriums auf Anfrage des "Mediendienstes Integration" rund 160.000 Einreisen von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine dokumentiert.
Es ist derzeit jedoch nicht möglich, genau zu sagen, wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer Deutschland erreicht haben. Denn ukrainische Staatsbürger können ohne Visum in die Europäische Union einreisen und sich in EU-Mitgliedstaaten des Schengen-Raums frei bewegen. Hinzukommt, dass einige bei Verwandten oder bei Menschen unterkommen, die ihre Wohnungen als kurzfristige Unterkunft anbieten.
So wie Sabine Nietmann. Sie registrierte sich beim Elinor-Netzwerk. Zusammen mit anderen nachhaltigen Organisationen hat Elinor die Aktion #UnterkunftUkraine gegründet, und damit einhergehend eine Website, die niederschwellig Unterkünfte vermittelt. Nach wenigen Tagen meldete sich eine Freundin. "Sie ist Ballettschülerin bei Daria. Und Daria erzählte ihr eben, dass ihre Mutter und Großmutter nach Frankfurt kommen", berichtet Nietmann. Sie musste nicht lange überlegen. Zehn Tage schlafen Svitlana und Anzhelika bei ihr im Gästezimmer.
Ukrainerinnen bei Deutsche in Frankfurt: Tiefe Verbindung zwischen den Frauen
Zwischen den Frauen entsteht in der kurzen Zeit ein "enges Band", wie Nietmann sagt. "Wir verständigen uns auf Englisch und Französisch", sagt sie. Denn Svitlana spricht Französisch, Anzhelika etwas Englisch. Während Nietmann über die gemeinsame Zeit redet, lachen die vier Frauen im Wohnzimmer, ab und an fallen sie sich gegenseitig ins Wort.
Wenn sie zusammen Nachrichten schauen oder Fotos aus Kiew, weinen sie immer wieder. "Das so mit ihnen mitzuerleben, auch, dass der Vater und Ehemann noch in der Ukraine ist. Das berührt jeden von uns. Es zerreißt mir das Herz, was gerade passiert. Sie sind schon meine ukrainische Familie."
Daria erfährt wieder durch ihren Job – sie ist Ballerina, Choreografin und unterrichtet Ballett – über zwei Ecken, dass eine Hauseigentümerin in Bad Homburg gern ukrainischen Flüchtlingen helfen möchte. Ausgerechnet Bad Homburg, in der Stadt, wo bundesweit die meisten Millionäre leben. "Eine Kundin von mir erzählte die Geschichte meiner Mutter und Großmutter weiter", sagt Daria. Nach wenigen Tagen werden sie zur Wohnungsbesichtigung eingeladen. Am letzten Wochenende konnten ihre Mutter und Großmutter dann einziehen.
Daria meldete sie im Bürgerbüro an. In den nächsten Tagen steht ein Termin bei der Ausländerbehörde an. "Die Vermieterin stimmte schon zu, die Miete zu akzeptieren, die die Ausländerbehörde zahlt", berichtet Daria. Und Nietmann ergänzt: "Die Vermieterin würde auf Geld verzichten. Das ist schon toll und einfach nur menschlich."
Geflüchtete aus der Ukraine: Wegen EU-Richtlinie erhalten sie automatisch einen Aufenthaltsstatus
Auf europäischer Ebene wurde am 3. März 2022 die "Massenzustrom-Richtline" aktiviert. Das bedeutet: Ukrainische Flüchtlinge müssen in Deutschland und allen anderen EU-Ländern kein normales – üblicherweise langwieriges und bürokratisches – Asylverfahren durchlaufen. Stattdessen bekommen sie automatisch einen Aufenthaltsstatus. Dieser kann auf bis zu drei Jahre verlängert werden.
Wegen der Richtlinie haben ukrainische Geflüchtete auch Anspruch auf Sozialleistungen, medizinischer Versorgung, Zugang zu Bildungsangeboten, Anspruch auf angemessene Unterbringung und Finanzierung sowie die Möglichkeit, sich einen Job zu suchen.
Anzhelika und Svitlana sind sehr dankbar für die enorme zivilgesellschaftliche Hilfe. Ihre neue Wohnung war leer, doch innerhalb weniger Tage spendeten Freunde ihrer Vermieterin Möbel, Handtücher oder Töpfe. "Es ist schwer in Worte zu fassen", sagt Anzhelika. "Dennoch sind wir aufgrund der instabilen und gefährlichen Lage in der Ukraine nicht glücklich."
Am Ende des Gesprächs gehen Anzhelika und Svitlana für das Foto in das Gästezimmer. Anzhelika sitzt auf dem Bett. Im Hintergrund hängt an der Wand eine ukrainische Flagge. Anzhelika lacht, Svitlana kann das nicht. Die Familie stammt aus Polen, der Ukraine und Russland. Svitlana ist Russin. "Wir kämpften zusammen gegen die Nazis. Jetzt bekämpfen wir uns gegenseitig", sagt sie.
- Gespräch in Frankfurt mit Svitlana Shevchenko, Daria Olefirenko, Anzhelika Olefirenko und Sabine Nietmann
- Zahlen und Fakten zu "Flüchtlinge aus der Ukraine" vom Mediendienst Integration
- Artikel aus der "Süddeutschen Zeitung": "Bis zu 500.000 Wohnungen für geflüchtete Ukrainer nötig"
- Infografik aus dem "Handelsblatt"