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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schiedsrichter-Angriffe immer brutaler "Ich bin noch immer schockiert"
Im Amateurfußball nehmen die Attacken auf Unparteiische zu. Der Ex-Bundesligaschiedsrichter Lutz Wagner findet: Die Übergriffe werden immer brutaler.
Angriffe und Aggressionen gegenüber Schiedsrichtern sorgen immer wieder für Schlagzeilen. Besonders in den unteren Klassen kommt es vermehrt zu brutalen Übergriffen auf Unparteiische. Im Gespräch mit t-online erklärt der ehemalige Fußballschiedsrichter Lutz Wagner, wie man vor allem jungen Schiedsrichtern helfen kann.
t-online: Ein Vater stürmt im Frankfurter Kreispokalfinale der C-Junioren zwischen dem FC Kalbach und Germania Enkheim aufs Feld und droht dem 15 Jahre alten Schiedsrichter damit, ihn "zu köpfen". In der Kreisliga B Darmstadt zwischen dem FCA II und dem TSV Nieder-Ramstadt soll der Bruder eines Spielers einen Gegner mit einem Faustschlag attackiert haben. Herr Wagner, was geht in Ihnen vor, wenn Sie von solchen Vorfällen auf Fußballplätzen hören?
Lutz Wagner: Ich bin noch immer schockiert. Ich denke aber auch immer gleich daran, was das auslöst bei jungen Menschen, die vielleicht Schiedsrichter werden wollen. Das ist total kontraproduktiv. Das ärgert mich, macht mich wütend und gleichzeitig besorgt.
Haben Sie das Gefühl, dass solche Vorfälle auf Fußballplätzen zunehmen?
Nicht die Zunahme ist besorgniserregend, sondern die Qualität, die Art der Übergriffe. Früher wurden die Schiedsrichter auch mal beschimpft oder in einem Leserbrief kritisiert. Aber da wurde eine bestimmte Hemmschwelle nicht so oft überschritten. Mittlerweile aber ist das durch das Internet viel einfacher geworden, und man kann dabei auch noch anonym bleiben.
Worauf führen Sie zurück, dass die Übergriffe vor Ort brutaler geworden sind?
Die Hemmschwelle, Schiedsrichter zu attackieren, ist gesunken, sowohl, was das Verbale als auch das Körperliche betrifft. Überhaupt ist der Respekt gegenüber helfenden Personen wie auch Polizisten, Sanitätern oder Feuerwehrmännern verloren gegangen. Sie werden nicht mehr wertgeschätzt. Man geht in einer Art und Weise gegen sie vor, die nicht zu tolerieren ist, obwohl sie für etwas Positives stehen. Das ist ein generelles Problem in unserer Gesellschaft, nicht nur eines des Fußballs. Der Fußball als die am meisten verbreitete Sportart im Land stellt einen Querschnitt unserer Gesellschaft dar, da finden sich alle Teile unserer Bevölkerung wieder. Außerdem ist er stark in den Medien vertreten, und alles, was dort passiert, fällt mehr auf als in anderen Sportarten.
Zur Person
Lutz Wagner (59) leitete zwischen 1994 und 2010 als Schiedsrichter fast 200 Fußball-Bundesliga-Spiele. Bei den Profis verdiente sich der Hofheimer viel Respekt, und er erfreute sich durch seine launige Art großer Beliebtheit. Seit seinem altersbedingten Karriereende engagiert sich das langjährige Mitglied des SV 07 Kriftel in der Ausbildung. Beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) koordiniert Wagner in leitender Funktion die Regelauslegung und Umsetzung von den Bundesligen bis zur Basis und ist zuständig für die Nachwuchs- und Talentförderung. Zudem tritt der Hesse als Experte im Fernsehen und als Coach für Führungskräfte auf.
Unterscheiden sich die Vorkommnisse in den verschiedenen Klassen, was Häufigkeit und Qualität angeht?
Chaoten, die sich nicht beherrschen können, gibt es überall, in der Kreisliga, der Oberliga, der Bundesliga. Aber in der Bundesliga gibt es Zäune, Polizei und einen Ordnerservice. In den unteren Klassen nimmt das ab, da ist der Schiedsrichter oft auf sich allein gestellt. Ihn und den Chaoten trennt dann nur noch eine Stange, die sich leicht überwinden lässt. Diese Rahmenbedingungen machen es solchen Leuten leichter, denn man kann nicht alle Sportplätze einzäunen und jedes Spiel mit Sicherheitspersonal ausstatten. Das wäre meiner Meinung nach auch der falsche Weg. Damit würde man nur die Wirkung eindämmen. Wir müssen an die Ursachen gehen und verhindern, dass das überhaupt passiert. Ansonsten sind wir schon einen Schritt zu weit.
Was könnte man tun?
Eine Gruppe muss zunächst einmal bestrebt sein, das selbst zu regeln. Wenn irgendwo ein bereits Auffälliger sein sollte, müsste der von den Spielen ausgeschlossen werden, weil er dem Verein schadet. Der Vater in dem Fall in Frankfurt beispielsweise war schon länger bekannt. Die Schiedsrichter können das nicht alles leisten, da muss die Gemeinschaft Fußball funktionieren. Dazu gehören auch Trainer, Spieler, Betreuer, aber ebenso Fans, Eltern, andere Zuschauer.
Wir werden nie alles verhindern können. Aber wir müssen sehen, dass diejenigen, die vernünftig sind, immer in der Überzahl bleiben und die anderen im Zaum halten. Was ich oft selbst praktiziere und auch den Schiedsrichter-Ausbildern mitgebe, das ist ein Rollenwechsel mit Trainern und Betreuern, damit das gegenseitige Verständnis steigt. Wenn ein Trainer mal ein Jugendspiel pfeift, merkt er, dass das nicht einfach ist. So steigt die Akzeptanz, und der Trainer fühlt sich mit dem Schiedsrichter verbunden und hilft ihm, weil er selbst erfahren hat, wie schwer dessen Aufgabe ist.
Wie kann man vor allem jungen Schiedsrichtern noch helfen?
Wir stellen ihnen vom Verband aus bei den ersten Einsätzen Paten an die Seite, also ältere, erfahrene Schiedsrichter, die gegebenenfalls auf die Leute im Umfeld einwirken. Denn wenn sie gar keinen Schutz haben, werden sie von Eltern vielleicht gleich so beschimpft, dass sie direkt wieder aufhören. Viel besser wäre es natürlich, wenn das gar nicht nötig wäre und die Leute sich benehmen würden. In England gibt es gerade einen Feldversuch, da statten sie die Schiedsrichter mit Bodycams aus. Da sieht man, was wirklich passiert auf dem Platz. Und wenn etwas passiert, dann bin ich für harte Strafen mit abschreckender Wirkung.
Wie bereiten Sie überhaupt Schiedsrichter auf ihre Einsätze und schwierige Situationen vor? Wie nimmt man ihnen die Angst?
Erwachsene Einsteiger haben in der Regel schon mehr Menschenkenntnis und Durchsetzungsstärke. Bei jüngeren arbeiten wir sehr stark mit Deeskalationstraining. Da werden in Rollenspielen solche Situationen simuliert. Wie gehst du da hin, wie sprichst du die Leute an, wie verhältst du dich? Das ist mittlerweile ein fester Bestandteil der Schiedsrichterausbildung.
Wie motiviert man trotzdem noch junge Leute, Schiedsrichter zu werden?
Ich schildere in erster Linie die positiven Aspekte und wenn einer oder eine nach einem negativen Erlebnis Zweifel bekommt, sage ich: "Setz dich mal hin und mache eine Liste mit den positiven und den negativen Punkten, und schau mal, was du schon alles erlebt hast im Fußball." Da wird man sehen, dass das Positive überwiegt. Aber man muss dem Schiedsrichter auch das Gefühl geben, dass er sich im Fußball in einer Gemeinschaft bewegt, dazugehört, anerkannt ist und dass ihm geholfen wird, wenn mal was passiert. Er sollte auch mal gelobt werden für eine gute Leistung.
Das Schlimmste ist, wenn er das Gefühl hat, dass er allein steht. Die Schiedsrichtervereinigungen machen herausragende Arbeit in der Betreuung mit speziellen Programmen, um die Jungschiedsrichter bei der Stange zu halten. Aber auf dem Platz stehen sie natürlich erst mal allein. Da sind wir darauf angewiesen, dass die anderen helfen. Oder besser: dass alle dem Fußball helfen.
Gibt es noch genug Nachwuchs bei den Schiedsrichtern?
Wir könnten ein paar mehr gebrauchen. Das Hauptproblem ist, dass viele innerhalb des ersten Jahres wieder aufhören. Einige merken, dass das nichts für sie ist, aber viele geben an, dass sie mit den Zuständen und dem Umgang auf den Plätzen nicht zurechtkommen. Dass sie Stress und keinen Spaß dabei verspüren. Das ist alarmierend, und das müssen wir alle zusammen anpacken.
Ist die Quote derer, die schnell wieder aufhören, in den vergangenen Jahren gestiegen?
Ja, aber das hat auch andere Gründe. Früher gab es in vielen Orten nur vier, fünf Vereine: Fußball, Feuerwehr, Handball, Turnen. Heute gibt es viel mehr Angebote, und die Jugendlichen probieren sich gerne aus. Sie bleiben außerdem nicht mehr so konsequent dabei, wenn es irgendwo Schwierigkeiten gibt.
Lässt sich alles, was Sie über Ausfälle gegenüber Schiedsrichtern sagen, auch auf unschöne Vorfälle gegenüber Spielern übertragen?
Der Umgang untereinander ist ein allgemeines Problem. Es gibt Sportarten, da werden bestimmte Werte höher gehalten als im Fußball. Von diesen können wir lernen.
Wie wichtig wäre es in dem Zusammenhang, dass die Profis, die als Vorbilder angesehen werden, sich besser benehmen?
Da lässt in manchen Fällen der Vorbildcharakter zu wünschen übrig. Manchmal kann ich das verstehen: Da geht es um Existenzen von Vereinen, Vertragsverlängerungen, den Trainerposten. Das ist in den unteren Klassen nicht so extrem der Fall. Da sollte es viel mehr um den Spaß am Spiel gehen. Generell aber sollten sich alle in der Bundesliga Beteiligten, Spieler, Trainer, Schiedsrichter, darüber im Klaren sein, dass sie Riesenvorbilder für die Kinder und Jugendlichen an der Basis sind. In positiver wie in negativer Hinsicht.
- Gespräch mit Lutz Wagner