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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gegen Glasscheibe gequetscht Polizeigewalt in Frankfurt: Opfer aus dramatischem Video spricht
Ein Streit eskaliert, die Polizei greift ein – ein Beamter verletzt einen Mann schwer. Das Video sorgt für Aufsehen. Nun äußert sich auch die Polizei.
Vier Polizisten stehen vor einem Imbiss in Frankfurt. Einer von ihnen öffnet die Tür und ruft: "Rauskommen. Ich will die Hände sehen, zeig deine Hände!" Ein weiterer Polizist sagt: "Langsam rauskommen." Wenige Sekunden später erscheint ein junger Mann in weißem T-Shirt. Von ihm scheint keine Gefahr auszugehen, dennoch packt ihn einer der Polizisten, dreht ihn zur Seite und presst ihn mit viel Wucht gegen die Glasscheibe des Imbisses. Diese zerbricht daraufhin. Der junge Mann schreit vor Schmerzen. Es sind Szenen aus einem Handyvideo.
Bei dem jungen Mann handelt es sich um einen 26-jährigen Auszubildenden aus Frankfurt. Wir nennen ihn S. Er möchte unerkannt bleiben. Im Gespräch mit t-online erzählt S., dass er noch am selben Abend im Krankenhaus operiert wird. Zehn Glasscherben befinden sich in seiner Hand und im Unterarm.
Er hat über seinen gesamten Arm verteilt mehrere Schnittwunden – eine Wunde verläuft vier Zentimeter quer über das Handgelenk. Ein Nerv wird zu 80 Prozent durchtrennt. So steht es im Entlassungsbericht, der t-online vorliegt. "Der Arzt sagte mir, wenn der Nerv komplett durchtrennt wird, könnte ich wohl nicht mehr meinen Arm richtig bewegen. Ich hatte großes Glück", sagt er.
Im Polizeibericht vom 14. August steht zunächst, dass sich S. bei seiner Festnahme an einer "Glasscheibe festhalten wollte, welche jedoch zerbarst. Dabei zog er sich eine tiefe Schnittwunde am rechten Handgelenk zu", heißt es. Einen Tag später korrigiert die Polizei ihren Bericht. Nach Sichtung des Videos stellten sie fest, dass die Glasscheibe "im Zusammenhang mit der Festnahmesituation und nicht durch ein vermeintliches Festhalten des 19-jährigen Beschuldigten" zerbrach. Kein Wort über die schwere Verletzung. Zudem gibt die Polizei ein anderes Alter an.
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Zu der Verletzung kommt es nur, weil S. zuvor in einer U-Bahn in eine Auseinandersetzung mit einem 24-jährigen Mann geriet. S. ist gerade auf dem Heimweg von seiner Ausbildungsstelle. Aufgrund eines unerwünschten Blickkontaktes, so schreibt es die Polizei, sei es zwischen den Männern zu einem Handgemenge gekommen. S. erzählt im Gespräch mit t-online, dass die Provokation vom 24-Jährigen ausgegangen sei.
Die Situation eskalierte, als beide an der Station "Deutsche Nationalbibliothek" die U-Bahn verließen. Laut Polizei habe S. den 24-Jährigen mit einem Pfefferspray angegriffen. S. jedoch sagt, dass es umgekehrt gewesen sei und er attackiert worden sei. "Ich habe, wie einige andere Leute auch, etwas Pfefferspray abbekommen." Nach Polizeiangaben verletzen sich drei Personen.
"Ich hatte das Gefühl, dass die Scherben meinen Arm durchtrennen"
Wenige Meter von der U-Bahn-Station entfernt befindet sich der Imbiss "Capri". S. rennt dorthin und geht sofort in die Toilette, um seine Augen mit Wasser zu benetzen. Wenige Minuten später hört er die Polizisten, die draußen vor dem Imbiss stehen. "Ich hatte einen Rucksack dabei und sagte ihnen, dass ich den Rucksack ablege und langsam rauskomme. Eine Hand hielt ich nach oben. Auf dem Video sieht man ja, dass ich langsam rausgehe", erzählt S. Als er den Imbiss verlässt, drückt ihn der Polizist gegen die Glasscheibe, die daraufhin zerbricht. "Die Schmerzen waren so stark. Ich hatte das Gefühl, dass die Scherben meinen Arm durchtrennen."
Was auf dem Video nicht zu sehen ist, sind die Szenen, die sich nach der Festnahme von S. abspielen. S. schildert es so: Nachdem die Polizisten ihm die Handschellen anlegen und zum Polizeiauto bringen, sagt einer von ihnen, dass seine Hand blute. Daraufhin soll der Polizist, der S. an die Glasscheibe drückte, gesagt haben, es sei nicht so schlimm. "Das Blut tropfte auf den Boden, die Schmerzen waren unerträglich. Ich fragte dann eine Polizistin, ob sie nach meiner Hand schauen könnte. Sie sagte nur, dass sie nichts machen könnte und den Krankenwagen ruft", sagt S.
Der 26-Jährige berichtet weiter, dass einige der Beamten gelacht hätten, einer gesagt habe, dass er selbst schuld sei, dass die Glasscheibe zerbrach, und auch, dass er für sie aufkommen müsste. Ein weiterer Polizist beleidigte S. als "Dreckskanaken" und fügte hinzu: "Das geschieht dir recht", so berichtet es S.
Er sagte den Polizisten auch, dass er kaum noch stehen konnte. Er habe keine Kraft mehr gehabt. "Ich habe die Polizisten gefragt, ob ich mich hinsetzen kann. Sie sagten, ich sollte so lange stehenbleiben, bis der Krankenwagen da ist", erzählt er. Währenddessen durchsuchen sie seinen Rucksack nach dem Pfefferspray.
S. wartet mit blutendem Arm 30 Minuten auf den Krankenwagen
Es dauert laut dem 26-Jährigen 30 Minuten, bis der Rettungsdienst den Imbiss erreicht. Erst im Krankenwagen nähmen die Polizisten S. die Handschellen ab. Erst jetzt würde seine Hand behandelt, in der bis dahin mehrere Glasscherben steckten.
Die Polizei hingegen widerspricht den Äußerungen von S. Es sei durch die Beamten zunächst beruhigend auf den Verletzten eingesprochen und es seien Erste-Hilfe-Maßnahmen geleistet worden, heißt es. "Dem 26-Jährigen wurde durch die Beamten ein Druckverband angelegt und es wurde ihm angeboten, sich zu setzen, was dieser zunächst zwar bejahte, es letztlich aber vorzog zu stehen, da ihm im Sitzen die Hände schmerzten."
Nach Angaben der Polizei sei der Rettungswagen um 21.08 Uhr angefordert worden und um 21.19 Uhr vor Ort eingetroffen. Die Festnahme von S. erfolgte um 20.50 Uhr. Es vergehen demnach 18 Minuten, bis die Beamten den Krankenwagen rufen. Auf die Frage, ob es denn nötig gewesen sei, S. so fest an die Glasscheibe zu drücken, bis diese bricht, antwortet die Polizei nicht.
Die Folgen der Festnahme treffen den 26-Jährigen hart. Erst am 1. August hat er seine Ausbildung begonnen. Er schäme sich, dass das Video von ihm existiert. "Meine Freunde haben es gesehen, auch meine Arbeitskollegen und mein Chef. Aber zum Glück steht mein Arbeitgeber hinter mir", sagt er. Dennoch: Mehrere Wochen kann er seinen Arm nicht bewegen. Die Verletzung schränkt ihn im Alltag stark ein.
"Ich kann mich nicht alleine anziehen oder kochen. Ich wohne alleine und muss jetzt wohl erst mal zurück zu meiner Mutter", erzählt er. Zudem habe er nächste Woche einen Test in der Berufsschule. "Jetzt muss ich den Test mit meiner linken Hand schreiben, weil ich Rechtshänder bin. Das ist sehr schwer."
S. weiß, dass all das wohl nicht passiert wäre, wenn es nicht zu der Auseinandersetzung in der U-Bahn gekommen wäre. Aber er fragt sich auch, warum der Polizist ihn so fest gegen die Glasscheibe drücken musste, bis diese zerbrach. "Es ärgert mich. Wenn der Polizist mich nicht gegen die Glasscheibe drückt, dann verletze ich mich auch nicht und ich könnte jetzt mit meiner Ausbildung und alles normal weitermachen." Die Polizei hat sich bisher nicht zu dem Fall geäußert.
- Gespräch mit S.
- Entlassungsbericht von S.
- Anfrage an die Polizei Frankfurt
- Mitteilung der Polizei Frankfurt vom 14. August
- Mitteilung der Polizei Frankfurt vom 15. August