Essener Tierheim-Chefin schlägt Alarm "Die meisten Tiere kommen hier verhaltensgestört an"
Immer mehr Menschen wollen ihre Tiere abgeben – das Essener Albert-Schweizer-Tierheim hat kaum mehr freie Plätze. Leiterin Jeanette Gudd erklärt t-online die Entwicklung und sagt, was ihren Mitarbeitern an die Substanz geht.
Wie viele Anrufe Jeanette Gudd (50) an diesem Tag erhalten hat, kann sie nicht mehr zählen. Das Telefon klingelt fast durchgehend. Zuletzt am Apparat: Ein Hundehalter aus Köln, der sein Tier im Tierheim Essen abgeben möchte. Gudd hat ihn abgewiesen: "Wir haben einfach keinen Platz mehr", sagt sie.
Über 50 Hunde und um die 150 Katzen wohnen derzeit an der Essener Grillostraße und warten auf ein neues Zuhause. Manche davon schon länger als fünf Jahre. Da Plätze für Fundtiere und Sicherstellungen freigehalten werden müssen, gibt es nahezu keinen Platz mehr in der Hilfseinrichtung. Ein Neubau des zweistöckigen Katzenhauses ist im August anvisiert, doch bis es zur Fertigstellung kommen wird, herrscht Platzmangel im Heim.
Effekte von Corona und Inflation
Seit etwa einem halben Jahr spitzt sich die Situation immer weiter zu. Betroffen seien Hunde, Katzen und Kleintiere, "ohne Ausnahme", sagt Gudd. Dass immer mehr Menschen ihre Tiere abgeben wollen, liege an den Krisen der letzten Jahre: "Zum einen merken wir die Effekte von Corona und der Inflation. Manche wissen nicht mehr, wie sie den Tierarzt bezahlen sollen." Zum anderen gebe es einen Trend hin zur Wegwerfgesellschaft.
"Alles soll immer funktionieren, auch das Haustier. Aber das geht nicht – es sind Lebewesen", sagt Gudd, die vor über 20 Jahren als Hundetrainerin im Essener Tierschutz startete. Was sie besonders ärgert: Manche Tiere landen nach wenigen Wochen wieder im Tierheim, weil die neuen Halter sich nicht an die Hinweise des Tierheims gehalten haben. "Wenn wir sagen: Lasst das Tier die ersten beiden Monate einen Maulkorb tragen, hat das seinen Grund", betont Gudd.
Auf ihrer Runde durchs Tierheim krault sie Bruce. Der Kater wurde nach einem Unfall gerettet und im Tierheim abgegeben. Lange Operationsnähte sind auf der rasierten Haut des Tieres zu sehen. "Er ist ganz zutraulich und schmusebedürftig", sagt Gudd und streichelt den Kopf des Katers. "Ich frage mich: Warum hat ihn niemand gesucht?", sagt sie.
"Ist schwer zu ertragen"
Früher sei es üblich gewesen, Tiere innerhalb weniger Wochen zu vermitteln. "Heute kommt kaum ein Tier gesund hier an. Die meisten sind verhaltensgestört", berichtet sie. Das mache den Beruf des Tierpflegers immer komplexer. "Die psychischen Anforderungen an den Beruf sind heute ganz andere", meint Gudd. Dass bei einer Sicherstellung 20 bis 30 Katzen auf einmal aus einer Wohnung geholt werden, ist keine Seltenheit mehr.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen Facebook-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren Facebook-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Zu erleben, wie diese Tiere dann aussehen, sei schwer zu ertragen. Was den Tierpflegern besonders an die Substanz geht: die mangelnde Zeit für die Beschäftigung mit den Tieren. "Je voller es ist, desto weniger Raum bleibt dafür", gibt Gudd zu. Dabei empfehlen Experten mindestens eine Stunde aktive Spielzeit für Katzen, in Form von 10- bis 15-minütigen Einheiten. Hunde brauchen etwa doppelt so viel Beschäftigung, also zwei Stunden – auch in Form von Auslauf.
Leichtfertige Anschaffung
Gudd ist sich sicher, dass viele Menschen sich vor dem Kauf eines Tiers nicht bewusst machen, was die Tierhaltung bedeutet. "Es wird einfach nach Optik gekauft", ärgert sich die Tierheimleiterin. Selbst bei einem Autokauf würden sich die Menschen intensiver darüber informieren, wie viel Liter das Auto verbraucht, ob es für den Stadtverkehr geeignet ist oder wie teuer die Versicherung ist. "Deshalb kann ich es einfach nicht verstehen, wie eine Englische Bulldogge bei einem Jogger landet und ein Border Collie bei jemandem, der eine Couch-Potato ist", sagt Gudd.
Über eins allerdings kann sie sich nicht beschweren: die Unterstützung der Essener Bürgerinnen und Bürger. "Auf die ist Verlass – wenn uns etwas fehlt und wir einen Aufruf starten, bekommen wir immer Hilfe", sagt Gudd. Aufgeben kommt für sie ohnehin nicht infrage. Wohin führt es, wenn es so weitergeht? Gudd zuckt mit den Schultern. "Dann rücken wir eben noch enger zusammen", sagt sie.
- Ortsbesuch beim Albert-Schweitzer-Tierheim Essen