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Sachsen-Wahl: Experte warnt vor "Bevormundung der Bürger" durch Kretschmer


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Landtagswahl in Sachsen
"Das käme einem Desaster gleich"

InterviewVon Marvin Graewert

17.08.2024Lesedauer: 4 Min.
Wahlkampf in Sachsen: Wahlplakate von Sahra Wagenknecht, BSW, Petra Köpping, SPD, Ministerpräsident Michael Kretschmer, CDU.Vergrößern des Bildes
Wahlkampf in Sachsen: Gerade beim Bündnis Sahra Wagenknecht bestehe das Risiko, dass die "Neulinge" in Regierungsverantwortung überfordert wären, sagt Jesse. (Quelle: IMAGO)

Der sächsische Politik- und Extremismusforscher Eckhard Jesse kritisiert Kretschmers Ausweichen bei der Koalitionsfrage scharf. Ein Gespräch über die "Wundertüte" BSW und mögliche Wahlbeben.

Wie sich der sächsische Landtag nach der Wahl am 1. September zusammensetzt, ist so offen wie lange nicht mehr. Die drittstärkste Kraft (Linkspartei) könnte den Wiedereinzug in den Landtag verpassen – selbst SPD und Grüne müssen wegen der Fünfprozenthürde bangen. Hinzu kommt, dass beim Wahlkampf taktisches Wählen eine noch größere Rolle spielt – die Prognosen könnten daher deutlich daneben liegen. Eigentlich gibt es nur einen sicheren Gewinner.

t-online: Herr Jesse, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) könnte aus dem Stand 13 bis 18 Sitze im Landtag holen. Wieso kann die Wagenknecht-Partei auch bei der Landtagswahl punkten?

Eckhard Jesse: Sahra Wagenknecht, die bekanntlich in keinem der Bundesländer zur Wahl steht, ist eine charismatische Persönlichkeit. Deshalb beeindruckt die einstige Frontfrau der "Kommunistischen Plattform" viele. Ihre neue Partei weist ein Alleinstellungsmerkmal auf: wirtschaftlich eher links, kulturell eher konservativ. Das kommt in den neuen Bundesländern gut an. Die Partei bekommt deshalb Stimmen aus allen Richtungen, von früheren Anhängern der Linken bis zu AfD-Sympathisanten.

Die BSW-Landesliste zeigt: Ab Platz zehn finden sich kaum noch Kandidaten mit politischer Erfahrung. Wer zieht da in den Landtag ein?

Die Vorsitzenden und die ersten beiden Kandidaten auf der Landesliste, die langjährige Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann und Prof. Dr. Jörg Scheibe, Unternehmer und Hochschullehrer, sind sehr bekannt. Ich kenne persönlich noch Janina Pfau, die auf Nr. 9 der Landesliste kandidiert und bei mir ihre Masterarbeit verfasst hat. Die Vogtländerin war früher Abgeordnete der Partei Die Linke und gemäßigt. Aber es besteht in der Tat das Risiko der Überforderung von Neulingen.

Prof. Dr. Eckard Jesse
Jesse studierte Politikwissenschaft und Geschichte an der Freien Universität Berlin. (Quelle: Heiko Kieflling)

Zur Person

Prof. Dr. Eckhard Jesse (geb. 1948 in Wurzen bei Leipzig) ist Politikwissenschaftler und Extremismusforscher. Von 1993 bis 2014 lehrte er an der TU Chemnitz. Er ist Mitherausgeber des "Jahrbuchs Extremismus & Demokratie" und Autor des Standardwerks "Politischer Extremismus in der Bundesrepublik". Jesse gilt als einer der renommiertesten Experten für Extremismus- und Demokratieforschung in Deutschland.

Ist eine so junge Partei mit vielen politischen Neulingen überhaupt reif für Regierungsverantwortung?

In Sachsen geht es allenfalls um eine Juniorpartnerschaft – das mindert die Probleme. Um Abenteurern und Glücksrittern den Weg zu versperren, findet bei der "Phantompartei" eine strenge Auslese statt: Das BSW umfasst in ganz Sachsen nicht viel mehr als 50 Mitglieder – das Team gilt vielfach als eine Art Wundertüte. Sollte die Partei in die Regierung gelangen, können durchaus erfahrene Personen ohne Mandat Ämter übernehmen.

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Michael Kretschmer weicht Fragen nach einer Zusammenarbeit mit dem BSW aus. Warum verweigert er den Wählern eine klare Ansage?

Der Ministerpräsident will potenzielle Wähler nicht verschrecken – und nicht nur er. Für lagerinterne Bündnisse fehlen angesichts des fragmentierten Parteiensystems die Mehrheiten. Den Anhängern der Sächsischen Union ist das BSW nicht sonderlich sympathisch, umgekehrt finden die Anhänger des BSW wenig Gefallen an der CDU.
Jedoch haben Wähler ein Recht darauf zu erfahren, was mit ihrer Stimme nach der Wahl passiert. Alles andere läuft auf eine Bevormundung des Bürgers hinaus. Es spielt doch eine gravierende Rolle, ob die CDU in Sachsen ein Bündnis mit den Grünen und der SPD bildet oder mit dem BSW, entsprechende Mehrheiten vorausgesetzt.


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Das Wort "Dammbruch" verkennt die Lage.


Eckhard Jesse zur bröckelnden "BrandMauer"


Fast die Hälfte der CDU-Mitglieder schließt laut einer Umfrage eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht aus. Könnte das Kretschmers Absage an die AfD nach der Wahl kippen?

Nein, auf der Landesebene hält die Ausgrenzung der AfD noch. Es ist eben mehr als eine Abgrenzung von ihr. Davon wird die CDU-Spitze nicht abrücken, kann sie auch nicht. Alles andere wäre der Bruch eines Wahlversprechens. Allerdings bröckelt inzwischen die "Brandmauer" in der Kommunalpolitik. Hier muss man pragmatisch zusammenarbeiten. Das Wort "Dammbruch" verkennt die Lage vor Ort.

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Wahlumfragen prophezeien, dass es FDP und Linkspartei nicht in den Landtag schaffen. Wie sehr dämpfen solche Umfragen den Erfolg von Parteien, die unter der Fünfprozenthürde gehandelt werden?

Kleine Parteien haben es bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der CDU und der AfD diesmal besonders schwer. Manche Wähler votieren taktisch für die CDU, damit diese stärkste Kraft wird. Das war bereits bei der letzten Landtagswahl der Fall: Da erreichten kleinere Parteien noch weniger Stimmen als erwartet. So scheiterte die FDP in Sachsen mit 4,5 Prozent an der Sperrklausel, obwohl dies so nicht absehbar war.
Kleinere Parteien könnten argumentieren, dass ihr Einzug ins Parlament der CDU mehr Koalitionsmöglichkeiten böte. Ob dies wirkt? Ich habe meine Zweifel. Selbst eine relative Stimmenmehrheit der AfD reicht nicht für deren Regierungsbeteiligung, da ihr ein Koalitionspartner fehlt.

Rechnen Sie am 1. September mit Überraschungen?

Wer mit Überraschungen rechnet, schließt solche damit im Vorhinein aus. Sollten die Liberalen in den Landtag einziehen, wäre das für mich eine Riesenüberraschung. Keine Überraschung bedeutete für mich das erstmalige Scheitern der Partei Die Linke an der Fünfprozentklausel in einem ostdeutschen Bundesland. Sollte die SPD das erste Mal bei einer Landtagswahl die Fünfprozenthürde nicht überwinden, so käme das einem Desaster für die Partei gleich. Wahrscheinlich ist es nicht, möglich jedoch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Prof. Dr. Eckhard Jesse aus Freiberg
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