Inklusion in der Hauptstadt "Hier werden Menschen mit Behinderung systematisch isoliert"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Fehlende Barrierefreiheit im ÖPNV, bei der Polizei und sogar beim Arzt: Menschen mit Behinderung werden in Berlin noch immer "systematisch isoliert", meint Ed Greve – und berichtet von seinen Erfahrungen.
Der 5. Mai ist der Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Er wurde 1992 das erste Mal begangen – ein Jahr, bevor Ed Greve auf die Welt kam. Der Transmann wurde mit der seltenen Krankheit Osteogenesis imperfecta geboren und kennt Berlin nur aus der Rollstuhl-Perspektive.
Um zu beschreiben, wie er die Stadt erlebt, erzählt er von einer Idee für eine Art Kunstprojekt: eine Visualisierung der Stadt aus der Perspektive von Rollstuhlfahrern, in der alle Gebäude, die sie nicht betreten können, gar nicht existieren. "Ich würde gerne wissen, was übrig bliebe und wie die Stadt dann aussähe", sagt er.
Schleppender Ausbau bei Berliner U-Bahnhöfen
Beispiele für Orte, die für den gebürtigen Pforzheimer nicht zugänglich sind, gibt es reichlich. Es fängt damit an, dass er von all seinen Freunden und Freundinnen lediglich drei besuchen kann. Die meisten leben in Häusern ohne Aufzug. "Kein guter Zustand", sagt Greve t-online, gerade jetzt in der Pandemie.
Bis Ende 2020, hieß es mal, sollten alle Berliner U-Bahnhöfe mit Fahrstühlen ausgestattet sein. Das hat die BVG nicht geschafft. Die Verkehrsbetriebe teilten am Dienstag auf Anfrage von t-online mit: "Aktuell gehen wir davon aus, dass Ende dieses Jahres auf noch rund 30 U-Bahnhöfen der barrierefreie Ausbau nicht abgeschlossen sein wird. Davon befinden sich zwölf bereits im Bau oder in der Bauvorbereitung, Planungen gibt es natürlich auch für alle anderen."
Wer sich also mit Bus und Bahn bewegt, der wird immer noch an einigen Bahnhöfen ausgebremst. Entweder gibt es keinen Fahrstuhl oder er ist außer Betrieb oder wird repariert. "Oder mehrere Leute stehen vor dem einzigen Aufzug und streiten darüber, ob jetzt der Kinderwagen wichtiger ist oder der Rollstuhl", erzählt Greve.
Beim Umsteigen am Kottbusser Tor stellt er sich oft die Frage: "Wieso gibt es hier nur einen Aufzug? Liegt es am Platz?" In Wien, erzählt er, ist es Standard, dass jeder Bahnhof mindestens zwei Fahrstühle hat.
"Freie Arztwahl? Totaler Quatsch!"
Auch in die Polizeistation am Rathaus Neukölln kommt er nicht mit dem Rollstuhl. "Mir wurde mal nach einem Verkehrsunfall angeboten, dass ich, um Anzeige zu erstatten, mit dem Polizisten in die Garage gehen könnte."
Und auch viele Arztpraxen sind nicht barrierefrei. "Freie Arztwahl? Totaler Quatsch!", sagt der Wahlberliner. "Ich bin trans und brauche meine Hormonversorgung. Ich möchte zu transfreundlichen Ärzten gehen können, aber natürlich muss die Praxis barrierefrei sein. Das gleicht dann der Suche nach der Nadel im Heuhaufen."
Greve will für HipHop-Partei ins Abgeordnetenhaus
Neu ist die mangelnde Barrierefreiheit nicht. Warum ändert sich nichts? Greve erklärt es so: "Es gibt in Deutschland keine einzige erwachsene Person, die nicht weiß, dass es Menschen gibt, die nicht laufen können. Jeder Mensch weiß, was ein Rollstuhl ist." Aber dann steht er vor einem Café mit Stufe. "Der Besitzer kann mir nicht erzählen, dass er nicht weiß, dass es Menschen gibt, die vielleicht eine Rampe brauchen." Greve sagt: "Wir haben ein System, in dem Menschen mit Behinderung systematisch isoliert werden, weil wir uns nicht bewegen können."
Um Benachteiligungen wie diese zu thematisieren und sie zu bekämpfen, will er im September für die HipHop-Partei "Die Urbane" ins Abgeordnetenhaus einziehen und Antidiskriminierungspolitik machen. Unterstützung bekommt Greve, der als politischer Referent im Migrationsrat tätig ist, von der Demokratiebewegung "Brand New Bundestag". Deren Ziel ist ein diverseres Parlament, dem etwa mehr Frauen, mehr People of Color, aber auch mehr Menschen mit Behinderung angehören.
Keine Priorität bei Corona-Impfung
Und dann ist da noch die Corona-Pandemie. Die ganzen Öffnungs- und Lockerungsdiskussionen gehen an seiner Realität völlig vorbei, sagt der 27-Jährige. "Ich überlege mir dreimal: Gehe ich jetzt das Risiko ein, mich in die S-Bahn zu setzen und mich heute für dieses Interview zu treffen oder sollte ich besser zu Hause bleiben?"
Teil seiner Grunderkrankung ist ein verkleinertes Lungenvolumen. Menschen mit Osteogenesis imperfecta haben ein generell höheres Sterberisiko bei Lungenentzündungen. Somit ist mit Covid-19 nicht zu spaßen.
Priorität bei der Impfung hatte er aber nicht. Erst im Juni ist er dran. Und selbst dafür musste er einen Härtefallantrag stellen, denn seine sehr seltene Erkrankung seht nicht auf der Liste der Bundesregierung mit den Risikofaktoren. Nicht mal einen Masken-Gutschein hat Greve von der Krankenkasse bekommen.
- Gespräch mit Ed Greve
- Eigene Recherche