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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Klima-Volksentscheid in Berlin "Das ist ein Argument wie im Kindergarten"
Berlin stimmt in einem Volksentscheid darüber ab, ob die Stadt 2030 klimaneutral werden soll. Ein Klimaforscher sieht darin eine "echte Chance".
Am Sonntag findet in Berlin der Volksentscheid "Berlin 2030 Klimaneutral" statt. Die Berlinerinnen und Berliner können darüber entscheiden, ob die Stadt 15 Jahre früher klimaneutral wird als bisher geplant. Klimaforscher Wolfgang Lucht, der unter anderem die Bundesregierung berät, sagt im Interview, was er von der Initiative hält und wie realistisch das Vorhaben ist.
t-online: Herr Lucht, was halten Sie als Klimaforscher von der Forderung, dass Berlin bis 2030 klimaneutral werden sollte?
Wolfgang Lucht: Der Volksentscheid ist eine echte Chance. Die Berliner Bevölkerung kann die klare Botschaft senden, dass sie bereit ist, beim Klimaschutz das zu tun, was jetzt dringend dran ist. Die Aufgabe ist eine Herausforderung von historischer Dimension, sie betrifft ein Menschheitsproblem. Ein Ja zum Volksentscheid würde die klare Forderung an die Politik ausdrücken, dass man endlich damit Ernst macht. Denn mit dem derzeitigen Tempo werden wir die Klimaziele nicht erreichen.
Die Berliner Politik sagt, dass Klimaneutralität bis 2030 nicht realistisch sei. Der Senat und auch die Bundesregierung wollen dieses Ziel bis 2045 erreichen. Würde das reichen?
Die Politik betont durchweg, dass auch für sie das 1,5-Grad-Ziel gilt. Das erklären alle führenden Parteien. Wie viel CO₂ Deutschland bis dahin noch emittieren darf, kann man anhand des CO₂-Budgets ausrechnen. Wir im Sachverständigenrat für Umweltfragen haben das getan. Selbst wenn man großzügig ist und Deutschland trotz der historischen Emissionen und trotz seines Reichtums keine größere Verantwortung als anderen zumutet und nur von der Bevölkerungsgröße ausgeht, kommt dabei heraus: Um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, müssten wir bei linearer Abnahme in der Tat schon um 2030 klimaneutral sein. Dass diese Berechnung nachvollziehbar und gut begründet ist, hat auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt. Die Jahreszahl 2045 passt da nicht dazu.
Zu Person
Wolfgang Lucht ist Physiker und Geografieprofessor an der Berliner Humboldt-Universität. Außerdem leitet er eine Forschungsabteilung am Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung und ist Mitglied des Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung.
Sie denken also, dass irgendwie 2030 erreicht werden muss, egal wie unrealistisch es derzeit erscheint?
Entscheidend ist jetzt vor allem, dass wir das Problem nicht erneut aufschieben, sondern mit aller Kraft angehen. Ob wir dann 2030 komplett klimaneutral sind oder einige Jahre später, ist dann vielleicht nicht ganz so entscheidend. Natürlich wirft so eine Veränderung enorm viele Probleme auf. Aber diese dürfen nicht als Ausrede verwendet werden, erst mal nichts oder wenig zu tun. Mit dem aktuellen Zerreden aller Maßnahmen erreichen wir jedenfalls nicht einmal das Ziel 2045. Man muss also zurückfragen: Ist es nicht eher unrealistisch zu behaupten, dass wir mit den jetzigen Maßnahmen die Klimaerhitzung stoppen? Dass jetzt die Zeit davonläuft, liegt ja vor allem auch daran, dass wir das Problem in den letzten 30 Jahren mehr als zögerlich angegangen sind.
Der Klimawandel ist eine globale Krise. Wie entscheidend sind da lokale Maßnahmen wie etwa in Berlin überhaupt?
Die enorm großen Folgen der kommenden Klimaerhitzung können nur abgemildert werden, wenn alle auf der Welt mitmachen. Dazu haben sie sich im Klimaabkommen von Paris aus gutem Grund verpflichtet. Verstecken kann sich da niemand mehr. Immer erst mal auf die anderen zu zeigen, das ist ein Argument wie im Kindergarten. Und natürlich müssen die reichen Industriestaaten vorangehen. Berlin ist die Hauptstadt eines reichen Industrielandes und muss zeigen, wie es geht. Denn die Klimaziele sind ja nicht die Vorstellung irgendwelcher Spinner, sondern das Ergebnis eindeutiger wissenschaftlicher Warnungen. Auch wir sind verpflichtet zu handeln.
Wie groß wäre die Symbolwirkung eines erfolgreichen Volksentscheids?
Sehr groß. Berlin könnte außerdem zeigen, dass es beim Klimaschutz nicht vor allem um Verzicht und Zwang geht, sondern auch darum, eine lebenswerte Stadt der Zukunft zu schaffen. Zum Beispiel mit weniger Autos und Beton und daher viel mehr Platz für Menschen und Lebensqualität. Da müsste es, egal wie der Volksentscheid ausgeht, ohnehin Fortschritte geben. Nach der Erfindung des Automobils wurden die Städte auch in rasender Geschwindigkeit autogerecht umgebaut. Man hat riesige Flächen mit Autobahnen und Parkplätzen zugebaut. Wenn wir wollen, können wir nun auch schnell wieder in eine andere Richtung gehen. Berlin kann wieder eine der attraktivsten Hauptstädte Europas werden. Der Volksentscheid ist für mich ein Ausdruck davon, dass wenigstens ein Teil der Bevölkerung bereit ist, grundlegend etwas zu ändern. Wie groß dieser Anteil der Bevölkerung ist, wird sich am Sonntag zeigen. Aber egal, wie es ausgeht: Die Herausforderung Klimaerhitzung bleibt.
- Interview mit Wolfgang Lucht