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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Riesige Erdlöcher in Erftstadt Wie konnte es dazu kommen?
Die Flut hat in Erftstadt-Blessem zu einem massiven Erdrutsch und dramatischen Schäden geführt. Experten suchen nach einer Lösung, um die Auswirkungen zu begrenzen. Doch sie stehen vor einer schwierigen Frage.
Die Straße ist nicht mehr da, Felder sind abgebrochen, Häuser ragen über den Abgrund. Das Wasser bahnt sich seinen Weg in eine nahegelegene Kiesgrube – und richtet auf dem Weg eine enorme Zerstörung an. Das zeigen die Bilder, die die Bezirksregierung Köln heute aus Erftstadt-Blessem verbreitete – jener Stadt, die am Freitagmorgen für die Helfer noch kaum erreichbar war.
Dort haben die Fluten riesige Krater in die Erde gerissen. Häuser wurden unterspült und stürzten ein. Noch immer ist die Lage sehr unübersichtlich. "Es gibt Todesopfer", sagte eine Sprecherin der Bezirksregierung Köln. Alle aktuellen Informationen zur Lage in den Hochwassergebieten lesen Sie hier.
Aber wie kann es passieren, dass auf einmal der Erdboden nachgibt und viele Meter tiefe Abbruchstellen entstehen?
Dr. Jürgen Herget, Geomorphologie-Professor an der Uni Bonn, erklärt es so: "Der Erdboden besteht im Wesentlichen aus feinkörnigen Bestandteilen. Zwischen diesen Körnern gibt es kleine Hohlräume. Füllen diese sich mit Wasser – wie es derzeit beim Hochwasser durch den Niederschlag oder das Hochwasser selbst der Fall ist – wird der Boden schwerer. Liegt er beispielsweise an einem Hang, rutscht er leichter ab."
Dass bei Hochwasserlagen Straßen wegbrechen, sei nicht ungewöhnlich, sagt Herget. Der Fluss fließt schneller als sonst und trägt deswegen mehr Material vom Uferbereich ab. So kann sich der Fluss in den Untergrund hineinarbeiten und ihn aushöhlen. Wenn neben dem Fluss also eine Straße liegt, wird ihr schlicht das Fundament genommen – und sie bricht weg.
"Wie bekommt man die Erft wieder in ihr Bett?"
Auf der Suche nach Ursachen, aber vor allem nach Lösungen ist Dr. Roland Strauß. Der Geograf arbeitet für den Geologischen Dienst NRW und ist an diesem Freitagmittag im Stress. Gerade kommt er aus einer Videokonferenz, bald beginnt die nächste. "Wir müssen uns noch ein aktuelles Bild von der Lage beschaffen", sagt er. Mitarbeiter des Dienstes seien deswegen nun vor Ort, beraten mit dem Besitzer der nahe gelegen Kiesgrube (oben auf dem Bild erkennbar), was nun getan werden kann.
Strauß beschreibt es als einen Dominoeffekt: "Die Erft hat ihr Bett verlassen und den Tagebau geflutet", sagt er. Dieser habe zunächst als eine Art Rückhaltebecken fungiert. Nun aber läuft er über und das Wasser frisst sich in die Böschungen, sagt Strauß. Gemeinsam werde nun fieberhaft nach Lösungen gesucht. Das müsse koordiniert werden, er bittet deswegen um Geduld. "Wir tun unser Möglichstes." Die große Frage nun sei: "Wie bekommt man die Erft wieder in ihr Bett?"
Ein extrem unwahrscheinliches Ereignis
Strauß ist es wichtig zu betonen, dass die Kiesgrubenbetreiber keine Schuld tragen. Aber kann man ihnen – angesichts der massiven Zerstörung – wirklich keinen Vorwurf machen?
"Der Prozess an sich ist simpel: Wenn eine Kiesgrube, die aus solch lockerem Material besteht, schnell von Wasser durchströmt wird, werden die Ränder weggespült. Die Erosion schreitet stromaufwärts zurück", sagt Dr. Michael Dietze, Geograf am Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) und der Universität Bonn. "Die Frage ist nun: Konnte man vorhersehen, dass das passiert?" An dieser Stelle liegt der Knackpunkt. Denn normalerweise berechne man Hochwasserereignisse, die alle zehn, fünfzig oder auch hundert Jahre auftreten. "Das jetzige ist aber extrem unwahrscheinlich und unvorhersehbar", sagt Dietze. "Ein Ereignis, mit dem man so ohne Weiteres nicht rechnen konnte."
Dementsprechend müsse nicht unbedingt ein Fehlverhalten vorliegen. Aber: "Mittelfristig könnte man drüber nachdenken, ob der Fluss neben der Kiesgrube umgeleitet werden sollte", sagt Dietze.
Die Bilder aus Erftstadt erinnern auch an einen weiteren Fall: Am Donnerstag überflutete der Fluss Inde einen Deich und bahnte seinen Weg in den Tagebau Inden. Ein Mitarbeiter wird seitdem vermisst. Trotz intensiver Bemühungen habe man ihn auch heute nicht gefunden, sagte RWE-Sprecher Jan-Peter Cirkel. Der Tagebau sei geräumt und derzeit nicht in Betrieb.
- Eigene Recherche
- Telefonat mit Roland Strauß und Jürgen Herget
- Nachrichtenagentur dpa