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Ende des Nationalsozialismus: "Die Reichen wurden unter Hitler noch reicher"


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Ende des Nationalsozialismus
"Die Reichen wurden unter Hitler noch reicher"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 10.05.2022Lesedauer: 5 Min.
Adolf Hitler: Die Nationalsozialisten waren keinesfalls "links", sagt Historiker Michael Wildt.Vergrößern des Bildes
Adolf Hitler: Die Nationalsozialisten waren keinesfalls "links", sagt Historiker Michael Wildt. (Quelle: ullstein-bild)
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Adolf Hitler spielte sich als sozialer Wohltäter auf, doch dahinter steckte reines Kalkül. Warum die Nationalsozialisten keineswegs "links" waren und dieser Mythos trotzdem so langlebig ist, erklärt Historiker Michael Wildt.

In den zwölf Jahren ihrer Herrschaft legten die Nationalsozialisten Europa in Schutt und Asche, terrorisierten und ermordeten Millionen Menschen. Jahrzehnte nach dem Ende des "Dritten Reichs" kursieren aber immer noch falsche Behauptungen über die Nationalsozialisten und ihre Ideologie: So seien die Nazis etwa durchaus "links" gewesen. Was ist von solchen Aussagen zu halten? Nichts, erklärt Michael Wildt, einer der führenden Experten zur Geschichte des Nationalsozialismus.

t-online: Professor Wildt, das "Dritte Reich" ging vor 77 Jahren unter, bis heute kursieren allerdings abenteuerliche Legenden. So wird immer wieder behauptet, dass die Nationalsozialisten eigentlich "links" gewesen wären. Was ist davon zu halten?

Michael Wildt: Die Nationalsozialisten waren nicht "links", das ist ziemlicher Unsinn. Auch wenn das Wort "Sozialismus" in ihrem Parteinamen vorgekommen ist. Es gab in der NSDAP eine Zeit lang einen Flügel, der den Antikapitalismus vertrat und eine Art Revolution anstrebte. Aber diese Richtung hat Adolf Hitler recht schnell entmachtet.

Deren Leitfigur, Gregor Strasser, ließ Hitler 1934 wie auch den SA-Führer Ernst Röhm ermorden.

Röhm hatte sich wie der zuvor entmachtete Strasser bei Hitler mit der Forderung nach einer Revolution unbeliebt gemacht. Der "Führer" hatte allerdings andere Vorstellungen.

Sozialistische Parolen hatte Hitler sogar persönlich 1928 aus dem Propagandareservoir der NSDAP entfernt, weil sie auf eher rechte Wählerschichten abschreckend wirkten.

Richtig. Die Nazis haben sich durchaus einen sozialen Anstrich gegeben, allerdings weniger aus menschenfreundlichen Beweggründen heraus. Nicht der Sozialismus, sondern der Rassismus war der Kern der nationalsozialistischen Ideologie. Nach eben solchen rassistischen Kriterien wurde dann auch die angestrebte deutsche "Volksgemeinschaft" hierarchisiert.

Was wiederum bedeutet, dass Juden und andere von Hitler und Konsorten unerwünschte Minderheiten von vornherein ausgeschlossen waren.

Welche Definition von links man heranziehen mag, es gehört immer das Streben zur Herstellung einer gewissen sozialen Gleichheit dazu. Von Gleichheit oder Gleichberechtigung findet sich bei den Nazis allerdings keine Spur, der Kern ihrer Ideologie war durch und durch rassistisch. Nicht zuletzt spielte der Faktor der Nützlichkeit des Einzelnen für die "Volksgemeinschaft" eine wichtige Rolle.

Michael Wildt, Jahrgang 1954, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2022 deutsche Geschichte des 20. Jahrhundert an der Humboldt-Universität zu Berlin. Wildt ist führender Experte für die Zeit des Nationalsozialismus, seine zahlreichen Bücher wie "Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes" von 2002 sind Standardwerke. Kürzlich erschien Wildts viel gelobte Darstellung "Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945".

Weil der Aufbau des "Tausendjährigen Reiches" viele willige Arbeiter benötigte?

Es herrschte die kollektivistische Vorstellung, dass jeder und jede alles für die "Volksgemeinschaft" zu geben und zu leisten hatte. Und gemessen daran einen entsprechenden Platz in der Gemeinschaft zugewiesen bekäme. Diese Ideologie hatte wiederum weniger einen linken Unterbau, sondern eher eine antielitäre und antibürgerliche Grundierung.

In seiner Rede auf dem Tempelhofer Feld anlässlich des 1. Mai 1933 betonte Hitler die Bedeutung der Arbeit, insbesondere der körperlichen Arbeit, für den nationalsozialistischen Staat.

Vom Professor bis zum Straßenkehrer sei jeder wichtig für die "Volksgemeinschaft" – so ließe sich Hitlers Rede zusammenfassen. Allerdings setzte Hitler durchaus eine populistische Spitze gegen die Akademiker. So würde es den Professoren nicht schaden, wenn sie auch einmal mit ihren Händen arbeiten würden.

Nun besagt eine beliebte Redewendung, dass sich harte Arbeit auszahlen muss. Das ist aber nicht geschehen für die Arbeiter.

Hitler versuchte den propagandistischen Spagat. Egal, ob jemand studiert hatte oder sich als einfacher Arbeiter verdingte, für die "Volksgemeinschaft" galt er offiziell als gleichwertig. In der Realität hatte die alte Klassengesellschaft aber auch im "Dritten Reich" weiter Bestand. Die Eigentumsverhältnisse haben sich unter den Nationalsozialisten nicht wesentlich verschoben. Die Reichen wurden unter Hitler sogar noch reicher, was dem Argument widerspricht, dass Hitler sozialistische Ziele verfolgt hätte.

Stattdessen galt das Hauptaugenmerk darauf, die sogenannte Arbeitsfähigkeit zu erhalten und zu steigern.

"Arbeitsfähigkeit" und damit verbunden die "Nützlichkeit" waren zentrale Kriterien der nationalsozialistischen Ideologie. Menschen mit Behinderungen, also nicht oder nur eingeschränkt Arbeitsfähige, wurden seit der Machtübernahme 1933 aus der "Volksgemeinschaft" ausgeschlossen, erst zwangssterilisiert, dann ab 1939 ermordet. Für die Nationalsozialisten waren diese Menschen schlicht "Ballast".

Juden hatte Hitler in seinem Antisemitismus bereits generell die Fähigkeit abgesprochen, "hart" arbeiten zu können.

Hier treffen und vermengen sich die Faktoren der Anti-Bürgerlichkeit und des Antisemitismus. Hitlers Ideologie operierte stark mit den antisemitischen Klischees des "jüdischen Wucherers" und des "jüdischen Finanzkapitalismus".

Die Nationalsozialisten fabulierten vom "schaffenden und raffendem Kapital".

Genau. Um wiederum Akzeptanz und Mobilisierung bei den Arbeitern, auf die man angewiesen war, zu steigern, griffen die Nationalsozialisten durchaus zu verschiedenen sozialen Maßnahmen. Wiederum nicht aus sozialistischen Erwägungen, sondern um die Loyalität der Arbeiterschaft im Krieg zu sichern.

Während sie die Juden auch im sozialen Bereich immer weiter diskriminierten, wie Sie es in Ihrem neuen Buch "Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 – 1945" beschreiben.

Auch die vermeintlichen sozialen Wohltaten für die "Volksgenossen" waren reine Stimmungsmache. Wie wenig das Wohl der Arbeiter den Nationalsozialisten am Herzen lag, zeigt die Entwicklung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Trotz Vollbeschäftigung wurden sie niemals gesenkt. Warum wohl? Weil dieses Geld für Aufrüstung und Krieg zweckentfremdet wurde.

Der von Hitler verursachte Krieg sollte wiederum viele als Soldaten eingezogene Arbeiter zu Invaliden machen. Wie ging das Regime mit diesen Menschen um, deren "Arbeitsfähigkeit" mindestens eingeschränkt war?

Der Umgang der Nationalsozialisten mit den Kriegsversehrten ist sehr bezeichnend. Als sie 1933 die Macht erlangten, sorgten sie schleunigst dafür, dass die vielen Invaliden des Ersten Weltkriegs aus der Öffentlichkeit verschwanden. Unter den Soldaten der Wehrmacht wiederum, die seit 1939 kämpften, kursierte ein hartnäckiges Gerücht: und zwar dass diejenigen, die wegen einer Verwundung nicht mehr kampf- oder arbeitsfähig wurden, getötet würden.

Ähnlich wie die Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen, die die Nationalsozialisten seit 1939 systematisch umbrachten.

Diese Morde blieben der Bevölkerung nicht verborgen. Dass man den Nationalsozialisten aber auch die Tötung von Kriegsversehrten zutraute, sagt eine Menge über die Einstellung der Bevölkerung über das Regime aus. Die eigenen Soldaten trauten Hitler alles zu – so ließe es sich umschreiben.

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Derartige Befürchtungen waren für die Ziele des NS-Regimes kontraproduktiv: Nach Kriegsbeginn 1939 war es die größte Sorge, die Heimatfront ruhig zu halten.

Für Hitler und die oberste Führungsriege des Regimes galt es als erwiesen, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg deshalb verloren hätte, weil Kommunisten die Moral der Arbeiter und Soldaten in der Heimat und zugleich an der Front untergraben hätten. Zudem hätten Juden als Wucherer die Wirtschaft zerstört. Könnte sich so etwas wiederholen? Das war Hitlers schlimmster Albtraum. Während des Zweiten Weltkriegs galt deswegen die oberste Devise: Die Loyalität der Heimatfront muss in jedem Fall erhalten werden.

Die deutsche "Volksgemeinschaft" durfte also keine Not leiden. Alle anderen aber schon – das ist die zynische Konsequenz.

Riesige Mengen Getreide wurden etwa aus der deutsch besetzten Ukraine nach Deutschland transportiert, nachdem es den ukrainischen Bauern mit Gewalt oder der Androhung derselben weggenommen worden war. Ob diese Menschen dann verhungerten, spielte für die Nationalsozialisten keine Rolle. Im Reich selbst stellte sich das Regime bei etwaigen Lohnstreitigkeiten zwischen Arbeitern und Unternehmern in der Regel auf die Seite der Ersteren – in jedem Fall sollte die Loyalität der Arbeiterschaft erhalten bleiben. Koste es, was es wolle.

Links waren die Nationalsozialisten also in der Tat keineswegs. Warum aber hält sich diese Falschbehauptung so hartnäckig?

Der Vorwurf, dass die Nationalsozialisten "links" gewesen wären, ist ein seit Entstehung der Bundesrepublik Deutschland immer wieder probates Mittel der Diskreditierung von Sozialdemokraten und anderer linker Gruppierungen. Leider.

Während des Bundestagswahlkampfes 1980 hatte der CSU-Chef Franz-Josef Strauß mit seinem Generalsekretär Edmund Stoiber fabuliert, dass Hitler doch eigentlich eine "linke" Politik angestrebt habe, seine Wählerschaft auch aus vielen eigentlich der SPD zuneigenden Wählern bestanden habe. Wäre dies ein passendes Beispiel?

Absolut. Es war ein überaus fragwürdiger Griff in die historische Mottenkiste und der politischen Kultur alles andere als dienlich.

Professor Wildt, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Michael Wildt via Videokonferenz
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