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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kiew im Zweiten Weltkrieg Die gepeinigte Hauptstadt der Ukraine
Die russischen Truppen dürften Kiew erobern – auch wenn die Ukrainer heftigen Widerstand leisten. Vor rund 80 Jahren war die Stadt schon einmal schwer umkämpft. Die Geschichte einer Tragödie.
Die Warnung am 29. Juli 1941 war deutlich: Kiew drohe von den deutschen Invasoren eingeschlossen zu werden. Aber Josef Stalin, gefürchteter Diktator der Sowjetunion, wollte nicht auf seinen erfahrenen Berater Georgi Schukow hören. So nahm das Unheil seinen Lauf, die angreifenden deutschen Panzergruppen vereinigten sich, der Fall von Kiew war nur noch eine Frage der Zeit.
Es war eine der großen Tragödien in einem an Tragödien so schrecklich reichen Krieg. Eine Tragödie? Nein, eher Verbrechen, denn als die Wehrmacht die Sowjetunion am 22. Juni 1941 überfiel, hatte das nationalsozialistische Deutschland seinen Feldzug längst als Raub- und Vernichtungskrieg geplant.
Hitler wollte die Zerstörung
Ein Beleg sind die Befehle, die Kiew betreffen. "Ihre Vernichtung durch Brandbomben und Artilleriefeuer ist vorzusehen, sobald es die Nachschublage gestattet", zitiert der Historiker Klaus Jochen Arnold die Pläne der Nationalsozialisten. Hitler betrachtete die Menschen der Sowjetunion im besten Falle als Arbeitssklaven, im schlimmsten als "unnütze Esser".
Der von der deutschen Propaganda so umjubelte Blitzkrieg im Osten war für die Zivilisten eine Katastrophe. "Über Straßen und Wege, in Fuhrwerken und zu Fuß schleppten sich Frauen mit Kindern auf dem Arm nach Osten, humpelten alte Männer und Frauen", zitiert der Militärhistoriker Antony Beevor den Zeitzeugen Wassili Grossman.
Gemäß dem Wunsch des "Führers" sollte Kiew also zerstört werden, doch die Generäle vor Ort waren anderer Meinung. Die Wehrmacht benötigte die dortigen Brücken, eine komplette Zerstörung der Stadt wurde aus "pragmatischen" Gründen verworfen.
Als die Wehrmacht Kiew am 28. August 1941 dann einschloss, wurde der 6. Armee die Aufgabe übertragen, die Hauptstadt der Ukraine zu erobern. 6. Armee? Ja, es handelte sich um die 6. Armee, die 1943 in Stalingrad "unterging". Ihr damaliger Befehlshaber, Walter von Reichenau, war ein fanatischer Nationalsozialist, der zahlreiche Kriegsverbrechen zu verantworten hatte.
Mord an den Juden
Als die Wehrmacht Kiew allmählich bis zum 19. September 1941 einnahm, detonierten zahlreiche Sprengsätze, zuvor gelegt von den abziehenden Sowjets. Die Schuld gaben die Deutschen Kommunisten und Juden, wie der Historiker Timothy Snyder sagt. Ein weiterer Vorwand, um die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Kiews am Ende des Monats zu "rechtfertigen". Beim Massaker von Babyn Jar ermordete die SS weit mehr als 30.000 Juden.
Es war nicht das einzige Verbrechen, dessen sich die Invasoren schuldig machten. Ende September 1941 schlossen die Deutschen Kiew von der Versorgung mit Lebensmitteln ab, schreibt Snyder in seinem Buch "Bloodlands". Und zitiert einen Zeitzeugen: "Es herrscht bitterer Hunger."
Auch nach der Eroberung Kiews waren die Kämpfe in der Nähe noch nicht vorbei. Nach dem Ende der sogenannten Schlacht von Kiew am 26. September 1941 gingen mehr als 650.000 Rotarmisten in Gefangenschaft. Die Deutschen behandelten sie schlecht.
Von den etwa 5,7 Millionen Soldaten der Roten Armee, die während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen gefangengenommen worden sind, kamen circa 3,3 Millionen in eben dieser Kriegsgefangenschaft um. Ein weiteres Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten.
Ende 1943 befreite die Rote Armee schließlich Kiew. Die Stadt war danach nicht mehr dieselbe.
- Eigene Recherche
- Klaus Jochen Arnold: Die Eroberung und Behandlung der Stadt Kiew durch die Wehrmacht im September 1941. Zur Radikalisierung der
- Besatzungspolitik, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 58 (1999), S. 23-63
- Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011
- Antony Beevor: Der Zweite Weltkrieg, 3. Auflage, München 2014
- Spiegel: "Wir machen uns unschuldiger als wir sind"