Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Zum 90. Geburtstag Die Welt kann Gorbatschow gar nicht dankbar genug sein
Lange bedrohte ein Atomschlag die Menschheit, dann entschärfte Michail Gorbatschow den Kalten Krieg. Im Gastbeitrag würdigt Horst Teltschik den einstigen Kremlchef. Und erklärt, warum manche Kritik verfehlt ist.
Wir Deutsche haben allen Grund, jeden Anlass zu nutzen, um uns an den letzten sowjetischen Präsidenten Michail S. Gorbatschow nicht nur mit großer Dankbarkeit zu erinnern, sondern darüber nachzudenken, warum wir viele Initiativen von damals nicht entschieden weiter verfolgt haben.
Seine drei Vorgänger Leonid Breschnew, Juri Andropow und Konstantin Tschernenko waren in den letzten Jahren ihrer Amtszeit schwer erkrankt und hatten die innenpolitische und wirtschaftliche Lähmung des eigenen Landes weiter verschärft. Mit verstärkter Aufrüstung mit nuklearen Mittelstreckenraketen (SS 20) und der Androhung eines Dritten Weltkrieges versuchten sie, von ihren eigenen Problemen abzulenken.
Der Kalte Krieg wurde entschärft
Im März 1985 übernahm Michail Gorbatschow im Alter von 54 Jahren, gesund und agil, das Amt des Generalsekretärs. Das zeigte sich schon im ersten Gespräch einen Tag nach seiner Ernennung mit Bundeskanzler Helmut Kohl in Moskau. Gorbatschow las keine im Politbüro abgestimmte Erklärung wie seine Vorgänger mühsam vor, sondern eröffnete sofort eine lebhafte Diskussion.
Noch im gleichen Jahr kam es zur ersten Gipfelbegegnung zwischen dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und Michail Gorbatschow im November 1985 in Genf. Das war nicht nur der Wiederbeginn der wichtigen Gipfeldiplomatie zwischen beiden Weltmächten, die nach Reagan auch von seinem Nachfolger George Bush fortgeführt wurde. Es war gleichzeitig der Startschuss für die Wiederaufnahme der Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen zwischen beiden Weltmächten. Sie haben zu den bisher historisch weitreichendsten Abrüstungs- und Rüstungskontrollvereinbarungen der Geschichte geführt. Achtzig Prozent aller Nuklearwaffen wurden kontrolliert abgerüstet.
Es kam zu einem weltweiten Verbot der Chemiewaffen, zu einer drastischen Reduzierung der konventionellen Systeme und zu wichtigen vertrauensbildenden Maßnahmen. Der letzte sowjetische Marschall Boris Schaposchnikow brachte die damalige Entwicklung auf den Punkt, als er sagte: "Wir sind heute so weit, dass wir nicht mehr von einem Wettrüsten, sondern von einem Wett-Abrüsten sprechen können."
Ein neues Wettrüsten hat begonnen
Heute erleben wir dagegen ein neues Aufrüsten. Neue Nuklearmächte wie China, Indien, Nordkorea u. a. sind hinzugekommen oder stehen wie der Iran gewissermaßen vor der Tür. Doch wer ergreift die Initiative für einen Neubeginn von Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen?
Parallel zu diesen Initiativen gegenüber dem Westen veränderte Gorbatschow seine Beziehungen zu seinen Bündnispartnern im Warschauer Pakt. Auf einem gemeinsamen Gipfel hatte er ihnen angekündigt, dass sie zukünftig für die Entwicklung ihrer Staaten selbst verantwortlich seien und er sich nicht mehr – wie seine Vorgänger – einmischen werde. Noch im Sommer 1968 hatte Generalsekretär Breschnew den "Prager Frühling" mit Panzern blutig beendet. Und Gorbatschow hat Wort gehalten.
Horst Teltschik, Jahrgang 1940, ist Politikwissenschaftler, Politikberater und Wirtschaftsmanager. Als enger Vertrauter des Bundeskanzlers Helmut Kohl war Teltschik in dessen Amtszeit unter anderem Vizechef des Bundeskanzleramts. Mit den Entwicklungen 1989/90 war Teltschik intensiv vertraut, unter anderem als Sonderbeauftragter für die Verhandlungen mit Polen. Zugleich wirkte er an den deutsch-deutschen Verhandlungen der Wendezeit wie der Deutschen Wiedervereinigung mit. Von 1999 bis 2008 leitete der Politologe die Münchner Sicherheitskonferenz, in der Wirtschaft war er unter anderem für die BMW Group tätig. Mit Michail Gorbatschow ist Horst Teltschik bis heute befreundet.
Als Polen 1989 demokratisch wurde, blieben die dort stationierten sowjetischen Soldaten in ihren Kasernen. Das wiederholte sich im gleichen Jahr in Ungarn, als der damalige ungarische Ministerpräsident Miklós Németh für Zehntausende DDR-Flüchtlinge die Grenze nach Österreich öffnen ließ und für sein Land freie Wahlen ankündigte. Auch nach dem Fall der Berliner Mauer und den Massendemonstrationen in den Städten der DDR blieben die 380.000 sowjetischen Soldaten in ihren Kasernen. Sie hätten die Mauer ohne Gegenwehr aus dem Westen wieder schließen können.
Treffen auf einem Getreidefeld
Wir sollten auch nicht vergessen, dass am Ende in der mit Präsident Gorbatschow vereinbarten Zeit von vier Jahren 500.000 russische Truppen aus Mitteleuropa – aus Ungarn, der CSSR, Polen und davon allein 380.000 Militärangehörige aus der DDR und insgesamt 180.000 Familienangehörige mit der gesamten militärischen Ausrüstung (680.000 Tonnen Munition inklusive Atomwaffen) – friedlich nach Russland zurückgekehrt sind.
Gorbatschow selbst hatte mit seiner Politik der 'Perestroika' grundlegende Wirtschaftsreformen und mit 'Glasnost' einen wichtigen politischen Reformprozess für die Sowjetunion eingeleitet. Diese Entwicklungen trugen wesentlich zu der Entscheidung von Bundeskanzler Helmut Kohl bei, mit der bekannten "Zehn-Punkte-Rede" im November 1990 im Bundestag die Initiative zur Vereinigung Deutschlands zu ergreifen.
Präsident Gorbatschow berichtete dem Bundeskanzler im Sommer 1990 auf einem frisch geernteten Getreidefeld in seiner Heimat in Südrussland, dass er und sein Außenminister Eduard Schewardnadse sich von Anfang an einig gewesen seien, dass in der Sowjetunion alles anders werden müsse. Doch dieser innere Reformprozess Gorbatschows ist in Russland bis heute zutiefst umstritten. Präsident Gorbatschow wird für die dramatische Wirtschafts- und Versorgungskrise in den Neunzigerjahren und für die Auflösung der UdSSR verantwortlich gemacht. Letzteres hat Gorbatschow nie gewollt. Sein Nachfolger Präsident Boris Jelzin trägt die Verantwortung dafür.
Gorbatschow fehlten die Experten
Im Rahmen des Vereinigungsprozesses hat Bundeskanzler Helmut Kohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene alles getan, um Präsident Gorbatschows Reformpolitik zu unterstützen. Für mehr als eine Milliarde DM wurden 1990 Lebensmittel und andere Versorgungsgüter geliefert, Milliardenkredite verbürgt, Unterkünfte für die zurückkehrenden sowjetischen Soldaten finanziert und anderes mehr.
Wer Gorbatschows innere Reformpolitik kritisiert, muss wissen, dass es in diesen Jahren in der Sowjetunion nur wenige Experten gab, die marktwirtschaftliche Reformen vorbereiten und begleiten konnten. Sowjetische Wirtschaftsexperten hatten zwar nach eigenen Berichten Ludwig Erhards Buch "Wohlstand für alle" übersetzt. Sie scheiterten jedoch am Ende an der operativen Aufbereitung und Durchsetzung der überfälligen Reformen.
Nach siebzig Jahren kommunistischer Misswirtschaft fehlten Präsident Gorbatschow die politischen wie wirtschaftlichen Experten, die Demokratie und Marktwirtschaft nicht nur buchstabieren, sondern vor allem erklären und operativ umsetzen konnten. Ausländische Berater vor allem aus den USA gab es in Fülle. Sie trugen häufig nur zu mehr Verwirrung bei, weil sie unterschiedliche Prioritäten setzten.
Letztlich gilt bis heute, was der einstige Präsidentschaftskandidat der Jabloko-Partei Grigori Jawlinski einmal in seinem Toast zur Geburtstagsfeier von Michail Gorbatschow zum Ausdruck brachte: "Michail Sergejewitsch, Du hast uns die Freiheit gebracht. Jetzt liegt es an uns, was wir daraus machen." Dies für die Sowjetunion friedlich erreicht zu haben, bleibt das historische Verdienst von Michail Gorbatschow.
Mauerfall ohne Blutvergießen
Darüber hinaus hat Michail Gorbatschow die friedliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten ermöglicht. Kein einziger Schuss ist gefallen. Europa ist geeint. Weder Mauer noch Stacheldraht trennen Europa. Der die Welt überlagernde Ost-West-Konflikt wurde beendet. Schon 1991 forderte der amerikanische Präsident George Bush eine neue Weltordnung. Sie steht bis heute aus.
Für Gorbatschow sollten diese Prozesse in ein "Gemeinsames Europäisches Haus" einmünden, in dem für alle Bewohner gleiche Sicherheit gewährleistet sein sollte. Diese Vision kam in der "Pariser Charta für ein neues Europa" zum Ausdruck, die im November 1990 von allen 34 Staats- und Regierungschefs der KSZE-Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde. Diese Charta definiert die Prinzipien, wie die gesamteuropäische Friedensordnung von Vancouver bis Wladiwostok ausgestaltet werden soll. Erste institutionelle Vereinbarungen wurden getroffen, wie diese Ziele verfolgt werden sollten.
Überprüfungskonferenzen auf verschiedenen Ebenen waren vereinbart. Nach der Unterzeichnung erklärte Präsident Michail Gorbatschow: "Unsere Aufgabe ist es jetzt, von der Diktatur zur Demokratie und von der Kommandowirtschaft zur Marktwirtschaft zu gehen." Er wird bis heute nicht müde, auf dieses gemeinsame Ziel hinzuweisen und es einzufordern.
Jetzt begeht Michail Gorbatschow seinen neunzigsten Geburtstag. Anlass genug für alle, ihm einmal mehr für seine historischen Verdienste zu danken. Es war ihm nur vergönnt, vielfach den Anstoß für Veränderungen zu geben, ohne sie selbst weiterzuverfolgen oder gar beenden zu können. Er hat aber bereits damit Geschichte geschrieben, eine Geschichte des Friedens, der Freiheit für viele. Danke, Michail Gorbatschow, auch für die persönliche Freundschaft, die uns bis heute verbindet.