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Gründung des Kaiserreichs: "Bismarck wollte es dann durch Krieg richten"


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Gründung des Kaiserreichs
"Bismarck wollte es dann durch Krieg richten"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 17.01.2021Lesedauer: 8 Min.
Napoleon III. mit Otto von Bismarck (r.): Die Gefangennahme des französischen Kaisers beendete den Krieg nicht.Vergrößern des Bildes
Napoleon III. mit Otto von Bismarck (r.): Die Gefangennahme des französischen Kaisers beendete den Krieg nicht. (Quelle: ullstein-bild)
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Mitten im Krieg entstand vor 150 Jahren das Deutsche Reich, als Ergebnis blutiger Konflikte. Historiker Christoph Jahr erklärt, warum die Deutschen trotz des Nationalstaats alles andere als einig waren.

t-online: Herr Jahr, drei blutige Kriege hatte Preußen geführt, dann wurde ein deutscher Nationalstaat errichtet. Glücklich wirkte bei der berühmten Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles am 18. Januar 1871 aber kaum jemand. Woran lag das?

Christoph Jahr: Die Stimmung im Versailler Spiegelsaal war sogar alles andere als gut. Als "Mummenschanz" titulierte etwa ein hoher preußischer Offizier die Zeremonie. Beim Verlassen des Saals gab Kaiser Wilhelm I. dann seinem Kanzler Otto von Bismarck nicht einmal die Hand zum Abschied. Wilhelm I. wollte eben eigentlich gar nicht Deutscher Kaiser werden, er wäre viel lieber allein König von Preußen geblieben.

Tatsächlich haderte Wilhelm I. mit dem "Scheinkaisertum", das Bismarck ihm eingebrockt hatte.

Genau. Die Bezeichnung "Deutscher Kaiser" war eine reine Kompromissformel – wenn schon, dann hätte Wilhelm I. wenigstens als Kaiser von Deutschland tituliert werden wollen. Was aber beim Großteil der anderen deutschen Fürsten auf heftigste Kritik stieß. Denn ein Kaiser von Deutschland hätte durchaus eine Territorialherrschaft über ihre Länder geltend machen können. Das lehnte vor allem Ludwig II. von Bayern vehement ab.

Allerdings hatte Bismarck den Bayern doch mehr oder weniger gefügig gemacht …

Durchaus. Bei der Gründung des Deutschen Reichs war Bestechung im Spiel. Denn Bismarck hatte tatsächlich zuvor viel Geld in die Privatschatulle von Ludwig II. transferiert, damit dieser seinen Widerstand gegen die preußischen Pläne aufgab.

Womit Ludwig II. dann unter anderem seine Prunkbauten in Bayern finanzieren konnte.

Richtig. Pikant ist dabei vor allem die Tatsache, dass dieses Geld aus dem Besitz Hannovers stammte. Dieses Königreich hatte Bismarck einfach von der Landkarte getilgt. Das war ein Ergebnis des "Deutschen Krieges" von 1866.

Christoph Jahr, Jahrgang 1963, lehrt als Privatdozent am Institut für Geschichtswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Historiker ist Experte für die Geschichte des Antisemitismus wie für die Deutschen Einigungskriege im 19. Jahrhundert. Kürzlich erschien dazu Jahrs Buch "Blut und Eisen. Wie Preußen Deutschland erzwang".

Also des zweiten Krieges, der innerhalb weniger Jahre von Preußen ausgelöst worden ist. Gehen wir aber am besten einmal an den Beginn zurück, bei dem Otto von Bismarck eine bedeutende Rolle spielte. Wie gestalteten sich die Machtverhältnisse in Deutschland, als Bismarck 1862 preußischer Regierungschef wurde?

Kompliziert. Es gab keinen deutschen Nationalstaat, das Land war zersplittert in zuletzt 35 Teilstaaten, unter denen Preußen und Österreich dominierend waren. Locker zusammengeschlossen hatten sich diese Länder 1815 im Deutschen Bund, der in erster Linie ein Instrument zur Gewährleistung innerer Ruhe und äußerer Sicherheit war. Vor allem gehörten ihm aber nicht nur deutsche Fürsten an. So vertrat etwa Dänemarks König die von ihm regierten Gebiete Schleswig, Holstein und Lauenburg im Deutschen Bund. Zugleich gab es aber eine starke Nationalbewegung, die die Deutsche Frage, also die Gründung eines Nationalstaates, vorantrieb.

In seiner Jugend galt Bismarck eher als verlottert. Wie konnte dieser Mann eine solche Karriere machen?

Bismarck hat gesoffen wie ein Loch. So könnte man es auch ausdrücken. Tatsächlich war er sein Leben lang dem Alkohol und dem guten Essen zugetan, auch zahlreiche Affären hat Bismarck gepflegt. Aber irgendwann hat er sich nach einer tatsächlich verlotterten Jugend "eine Verfassung gegeben", um es mit Thomas Mann zu sagen. Und in den 1850er-Jahren politisch Karriere gemacht als monarchistischer Hardliner, der wenig auf Parlamentarismus und Liberalismus gab. Preußen groß zu machen wurde Bismarcks großes Ziel.

Wozu er seit seiner Berufung zum Ministerpräsidenten Preußens 1862 die Gelegenheit hatte.

Genau. Bismarck war ein harter Hund, aber ein pragmatischer. Die Nationalbewegung war ihm überaus suspekt, weil sie eben auch viele liberale Ideen vertrat. Zugleich war Bismarck aber klar, dass man sie nicht ignorieren konnte, wenn Preußen zur dominierenden Macht in Deutschland werden sollte. Und zwar gegen das Kaisertum Österreich.

Bitte erklären Sie das näher.

Alle deutschen Fürsten hatten Angst vor Preußens Hunger. Die kleinen und mittleren Staaten wussten sehr wohl, dass Österreich sie nicht schlucken wollte und konnte, die Österreicher hatten genug mit ihrem eigenen Vielvölkerreich zu tun. Bei den Preußen sah das schon ganz anders aus. Also lehnte sich die Mehrheit der deutschen Fürsten an Wien an. So konnte Bismarck unmöglich eine Mehrheit in Deutschland gewinnen, um Österreich, das viele Gebiete außerhalb des Deutschen Bundes umfasste, hinauszuwerfen.

Bismarck brauchte also Verbündete.

Richtig. Und er wusste auch, wo er sie finden konnte. Und zwar in der besagten deutschen Nationalbewegung. Schon kurz nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten in Preußen hielt er seine berühmt-berüchtigte Rede, nach der "die großen Fragen der Zeit" durch "Eisen und Blut" entschieden würden. Diese Worte werden oft einseitig als Kampferklärung an den Liberalismus gelesen. Zugleich machte Bismarck aber ein Angebot an die Nationalliberalen.

Politik und Militär reklamierte Bismarck für sich, dafür offerierte er den deutschen Nationalstaat und einen liberalen Kurs vor allem in der Wirtschaft – lässt sich die Offerte so zusammenfassen?

Genau.

Also bestand das Ziel darin, Österreich als Konkurrenz auszuschließen. Zunächst zogen Preußen und die Donaumonarchie 1864 aber gemeinsam in den Kampf gegen die Dänen.

Es ging um die Schleswig-Holstein-Frage, ein jahrhundertealtes Problem, über dem schon ganze Generationen von Gelehrten verzweifelt sind. Kurz gesagt, Dänemark wollte insbesondere Schleswig enger an sich binden. Preußen und Österreicher zogen daraufhin in den Krieg gegen die Dänen. Interessant ist aber vor allem, dass Bismarck zeitweise als Verräter der deutschen Nation galt, denn die meisten Klein- und Mittelstaaten sowie die liberale Nationalbewegung wollten ein neues Herzogtum Schleswig-Holstein gründen. Der Krieg von 1864 war daher kein "deutsch-dänischer", denn der Deutsche Bund lehnte ihn ab. Österreich und Preußen betrieben klassische Großmachtpolitik gegen Dänemark. Sie wollten keinen deutschen Nationalstaat begründen, sondern ihn verhindern.

Und zwar, indem Österreicher und Preußen die Beute erst gemeinsam verwalteten und 1865 unter sich aufteilten. Erstere erhielten Holstein, Bismarck sicherte sich Schleswig. Allerdings zogen bald die beiden ehemaligen Verbündeten bereits 1866 gegeneinander in den Kampf.

Bismarck reizte die Österreicher immer wieder bis aufs Blut, geschickt brach er den deutschen "Bruderkrieg" vom Zaun. Zumindest wurde der sogenannte "Deutsche Krieg" von 1866 auch so bezeichnet. Ziemlich theatralisch hatte Preußens Gesandter bei der Bundesversammlung in Frankfurt am Main schließlich 1866 den Deutschen Bund für aufgelöst erklärt. Dann sprachen auch schon die Waffen.

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Preußen kämpfte allerdings nicht allein.

Allein aus Selbsterhaltungstrieb fürchteten, wie gesagt, viele Preußens Stärke. Den meisten norddeutschen Staaten blieb allerdings nichts anderes übrig, als mit den Preußen zu kämpfen. Die Hannoveraner und Sachsen aber, dazu auch alle süddeutschen Staaten, hielten es mit Österreich.

Was sich als fatal erweisen sollte.

Auch die Preußen machten Fehler, waren aber besser organisiert. Mit viel Glück entschieden sie den Krieg dann für sich. Und der Ausgang sollte sich als Revolution erweisen: Österreich war fortan keine deutsche Macht mehr. Für die Zeitgenossen war das kaum vorstellbar: Bismarck hat eine Jahrhunderte alte Ordnung zerstört.

Preußen hingegen wurde so mächtig wie nie.

Richtig. Wir dürfen Bismarck aber nicht zum Genie verklären. Besagtes Glück kam ihm zugute, darüber hinaus hatte er die klareren Ziele als die Gegner: Österreich aus Deutschland drängen, dazu sollte Preußen als einzige Macht etwas in Deutschland zu sagen haben. Wie diese Ziele erreicht werden sollten, dabei war Bismarck flexibel. Aber bei der Verwirklichung war Bismarck geradezu eisern. Er verleibte Preußen das Königreich Hannover ein, Schleswig und Holstein sowieso, Hessen-Kassel und Hessen-Nassau sowie Frankfurt am Main. Nördlich der Mainlinie entstand der Norddeutsche Bund unter preußischer Hegemonie. Die besiegten süddeutschen Staaten kettete Bismarck hingegen durch aufgezwungene Schutz- und Trutzbündnisse an Preußen. Österreich sollte aber nicht gedemütigt werden, um es nicht dauerhaft zum Feind zu haben. So musste das Kaisertum etwa keine Gebiete abtreten.

Weil er bereits an den nächsten Krieg dachte. Dieses Mal gegen Frankreich.

In der Tat. Allerdings suchten beide Seiten nach einem Konfliktgrund. In Frankreich hatte sich nach 1866 eine Kriegspartei gebildet, die Preußen nicht noch mächtiger werden lassen wollte. Bismarck hingegen wollte die Einheit Deutschlands durch den Einbezug der süddeutschen Staaten vollenden, kam aber innenpolitisch nicht voran. Bismarck wollte es dann durch Krieg richten. Denn wenn er Frankreich zum Angriff verleiten könnte, müssten die Süddeutschen zusammen mit den Preußen kämpfen.

Indem Bismarck die berühmte Emser Depesche anschärfte, bekam er seinen neuen Waffengang: Am 19. Juli 1870 erklärte das Kaiserreich Frankreich Preußen den Krieg.

Bismarck hatte den Kriegsausbruch wirklich raffiniert inszeniert. Da Frankreich den Krieg erklärt hatte, hielten die anderen Großmächte still …

… Preußen hatte Österreich nach der Niederlage 1866 ja auch sehr schonend behandelt.

Genau. So gelang es Bismarck bereits zum dritten Mal, eine Koalition anderer Mächte gegen Preußens Aufstieg zu verhindern. Der Deutsch-Französische Krieg lief dann auch sehr erfolgreich.

Anfang September 1870 nahmen die deutschen Truppen Kaiser Napoleon III. und einen Großteil seiner Armee in Sedan gefangen.

Eine andere französische Armee wurde in Metz belagert. Allerdings war der Krieg mit der Gefangennahme Napoleons III. nicht zu Ende, im Gegenteil: In Paris wurde die Republik ausgerufen, die den Krieg weiterführte.

Vier Monate später kam es dann zur Kaiserproklamation in Versailles.

Und der Missstimmung, über die wir schon gesprochen haben: Der Kaiser war ausgesprochen sauer auf Bismarck. Aber wirklich in der Klemme befand sich Friedrich I. von Baden, der als ranghöchster nicht-preußischer Fürst in Versailles das Kaiserhoch auszubringen hatte. Er musste seine Worte weise wählen, weil sonst entweder der Kaiser oder Bismarck verärgert gewesen wäre. Also vermied er sowohl "Deutscher Kaiser" als auch "Kaiser von Deutschland", sondern rief: "Seine Kaiserliche und Königliche Majestät, Kaiser Wilhelm, er lebe hoch, hoch, hoch!" Seinen Kanzler schnitt besagter Kaiser dann, Bismarck wäre am liebsten wie eine Bombe geplatzt, wie er seiner Frau klagte.

Allerdings diente die ganze Veranstaltung vor allem dem Showeffekt.

Das Deutsche Reich existierte formell bereits seit dem 1. Januar 1871. Der 18. Januar war allerdings für die Hohenzollern ein sehr wichtiges Datum. 1701 hatte sich an diesem Tag mit Friedrich I. der erste Herrscher aus dieser Dynastie zum König erhoben. Anhand der Kaiserproklamation lässt sich daher gut ablesen, dass das Deutsche Reich ein Projekt der militärisch-monarchischen Eliten war. Es war ein Fürstenbund, das Volk durfte lediglich zuschauen. So gab es eben auch keine offizielle Presseberichterstattung aus Versailles, auch wenn das Ergebnis angekündigt gewesen ist in den Zeitungen.

Tatsächlich wurden in der Folgezeit viele innere Konflikte durch den Mythos der Reichsgründung verdrängt.

Das kann man wohl sagen. Nicht zuletzt haderten viele Protestanten zunächst mit diesem Kaisertum, weil das doch sehr nach dem alten "Heiligen Römischen Reich" klang, das überaus katholisch geprägt war. Zudem war die Konfessionsfrage gerade für die mehrheitlich protestantischen Preußen schwierig, denn nun integrierte das neue Reich eben sehr viele Katholiken.

Es kam auch bald zum sogenannten Kulturkampf zwischen Bismarck und der katholischen Kirche, um die Frage, der die wahre Macht hatte.

Das ist ein aus heutiger Sicht schwer verständlicher Konflikt, der damals aber von großer Bedeutung war. Viel augenscheinlicher ist das Verhältnis zwischen den Gliedstaaten des Deutschen Reichs: Preußen verfügte über gut zwei Drittel der Fläche wie der Bevölkerung, dazu war es mit dem Ruhrgebiet, dem Rheinland und Schlesien die wirtschaftliche Führungsmacht. Entsprechend wollten die kleineren Staaten so wenig Macht wie möglich abgeben. Sie sehen: Von allumfassender Einigkeit war nicht immer die Rede.

Aus zukünftiger Sicht taten die vielen Siege den Deutschen allerdings alles andere als gut.

In der Tat. Die berühmte Schlacht von Königgrätz 1866 war schon fast für die Preußen verloren. Allein weil eine weitere preußische Armee gerade noch rechtzeitig eintraf, ging es anders aus. Und überhaupt der Deutsch-Französische Krieg: Viele Schlachten konnten die Deutschen nur mit Glück gewinnen. Vor allem aber kam es, was für die europäische Geschichte untypisch war, zwischen 1864 und 1871 zu keinem europäischen Koalitionskrieg, in dem Preußens anfängliche Siege vielleicht keinen Bestand gehabt hätten. Und eben das vergaßen die nachfolgenden Generationen.

So kam es auch aus diesem Grund zu einem völlig verfehlten Glauben in die eigenen militärischen Fähigkeiten. Was sich etwa im Ersten Weltkrieg als fatal herausstellen sollte.

Genau. Denn der wurde dann wieder ein großer Koalitionskrieg mit verheerenden Folgen. Der Historiker Ludwig Dehio sprach nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur deshalb vom "unverstandenen Glück", das zum deutschen Nationalstaat von 1871 geführt hatte.

Herr Jahr, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Gespräch mit Christoph Jahr
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