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Historiker über Donald Trump: "Kein Verständnis für Leid, das er verursacht"


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Historiker Christopher Clark
"Ständig musste Trump seinen Schlendrian unterbrechen"

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 02.12.2020Lesedauer: 12 Min.
Donald Trump: Im Weißen Haus ist der US-Präsident nie glücklich gewesen, so Christopher Clark.Vergrößern des Bildes
Donald Trump: Im Weißen Haus ist der US-Präsident nie glücklich gewesen, so Christopher Clark. (Quelle: Chris Kleponis/imago-images-bilder)

Im kommenden Jahr endet Donald Trumps Amtszeit und das Coronavirus wird besiegt. Warum wir durch die Krise leider trotzdem nicht klüger werden, erklärt Europas führender Historiker Christopher Clark im t-online-Interview.

Donald Trump hat Schaden in seiner Amtszeit angerichtet, außerordentlich viel Schaden. Historisch betrachtet schneidet der US-Präsident sogar im Vergleich zu einer der berüchtigsten Figuren, die wir Deutschen jemals an der Staatspitze hatten, schlecht ab. Die Rede ist von Wilhelm II., dem letzten deutschen Kaiser. Dies sagt mit Christopher Clark einer der weltweit führenden Historiker im Gespräch mit t-online.

Überhaupt gibt der historische Vergleich zwischen unserer Gegenwart und der Zeit vor 1914 großen Anlass zur Sorge, so Clark. Derart instabil wie es derzeit der Fall ist, sei das internationale System zuletzt vor dem verheerenden Ersten Weltkrieg gewesen. Warum wir Europäer die "Zukunft" verloren haben, die Menschheit nach Corona nicht unbedingt klüger sein wird und doch Hoffnung für unsere Spezies besteht, all dies erklärt der Historiker in unserem Gespräch:

t-online: Professor Clark, Donald Trump ist abgewählt, auch wenn er es selbst nicht ganz einsehen will. Welche historische Persönlichkeit kommt Ihnen in den Sinn, die einen ähnlichen Sinn für Realitätsverweigerung bewies wie der noch amtierende US-Präsident?

Christopher Clark: Wenn ich mir Donald Trump anschaue, muss ich schnell an Wilhelm II. denken. Den letzten und unfähigsten deutschen Kaiser.

Jetzt sind wir doch etwas überrascht.

Es steckt erstaunlich viel von Wilhelm II. in Donald Trump: Wie Wilhelm II. plappert Trump ungezügelt drauflos und verfügt bei wichtigen Angelegenheiten nur über eine bemerkenswert kurze Aufmerksamkeitsspanne. Er ist genauso leicht reizbar und prahlt gern. Trump und Wilhelm II. eint auch die Neigung zu absoluten Schnapsideen. Denken Sie daran, wie der US-Präsident den Amerikanern vor nicht allzu langer Zeit völlig unerprobte, gefährliche Therapien gegen das Coronavirus empfohlen hat.

"Ihr alle wisst gar nichts", hat Wilhelm II. einmal seine Berater belehrt.

Diesen Satz würde man ohne Weiteres auch Trump zutrauen. Bei beiden Persönlichkeiten sehen wir zudem eine starke Gefühlskälte. Trump hat keinerlei Verständnis für das Leid, das er mit seiner Politik verursacht hat. Trotzdem ist selbst der unfähige Kaiser Wilhelm II. besser gewesen als Trump.

Sir Christopher Clark, geboren 1960, lehrt Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine's College in Cambridge. Clark ist einer der führenden Historiker, sein 2013 erschienenes Buch "Die Schlafwandler" über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs war ein internationaler Bestseller. Zudem hat Clark Standardwerke zur Geschichte Preußens wie zu Wilhelm II. verfasst. 2015 schlug Queen Elizabeth II. den Historiker zum Ritter. Kürzlich erschien Clarks neuestes Buch "Gefangene der Zeit. Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump".

Das ist nach Ihrer bisherigen Charakterisierung schwer zu glauben.

Trump ist die fleischgewordene Verrohung der Sitten. Im Jahr 2015 hat er sich in einer TV-Debatte im Rahmen der republikanischen Vorwahlen für die US-Präsidentschaft von einer Journalistin unfair behandelt gefühlt. Deshalb warf er ihr vor, sie sei aufgrund ihres Menstruationszyklus besonders aggressiv gewesen. Und das in den USA, einem Land, in dem Höflichkeit und Respekt gerade im Umgang mit Frauen so wichtig sind. Noch vor 15 Jahren wäre Trump deshalb sofort den politischen Tod gestorben. Oder nehmen Sie seine Beleidigungen in Richtung Nordkorea.

Er bezeichnete Diktator Kim Jong-un als "krankes Hündchen".

… und der Diktator hat es ihm auf demselben Niveau heimgezahlt. Wenn wir überhaupt von Niveau sprechen können. Zu Zeiten von Wilhelm II. war ein solches Benehmen undenkbar, der Kaiser hätte sich in der Öffentlichkeit niemals derart über einen ausländischen Politiker geäußert. Im Gegensatz zu Donald Trump hatte Wilhelm II. auch Interessen, die über den geistigen Horizont von "Fox News" hinausgehen. Er interessierte sich zum Beispiel für die Kultur der alten Hethiter in Kleinasien und für die Radiotelegrafie. In solche Themen hat sich Wilhelm II. mehrere Monate lang vertieft und dann seine Umgebung mit seinem Wissen erstaunt. Donald Trump interessiert sich ausschließlich für sich selbst. Mental ist er unglaublich eingeschränkt.

Trotzdem bleibt es Fakt, dass er bei der Wahl im November sogar noch Stimmen hinzugewonnen hat. Wie erklären Sie diesen Erfolg?

Beim Phänomen Trump bleibt manches schwer begreiflich. Und voller Paradoxien. So gehören die Evangelikalen zu Trumps treuesten Unterstützern. Stellen Sie sich das bitte vor: Strenggläubige Christen wollen Donald Trump im Weißen Haus sehen, einen Mann, der geschieden ist, der es mit der Wahrheit nicht genau nimmt und sich alles andere als höflich benimmt.

Er ist in den Augen dieser Leute wohl das kleinere Übel.

Richtig. Um Abtreibungen unmöglich zu machen, würden diese Leute sogar Beelzebub wählen. Für manche Amerikaner ist Trump das Instrument Gottes, um ihre "christlich" gefärbten politischen Ziele durchzusetzen.


Wenn man Trumps Tiraden gegen Minderheiten hört, drängt sich der Eindruck auf, dass sich die Gewalttätigkeit der amerikanischen Geschichte in ihm personifiziert.

Das ist ein sehr treffendes Bild. Trump ist geradezu ein "Revenant", ein Wiedergänger. Also die Personifikation verdrängter Aspekte aus der Geschichte der USA, die sehr konfliktreich und gewalttätig gewesen sind. Der daraus resultierende Hass ist bis heute nicht gänzlich überwunden – etwa in Bezug auf die Sklaverei, den Bürgerkrieg und die Zeit der Rekonstruktion der Union danach. Tatsächlich könnten die Amerikaner in dieser Hinsicht von Deutschland etwas lernen.

Das müssen Sie erklären.

Nach zwei verheerenden Weltkriegen haben die Deutschen seit den Sechzigerjahren einen historisch einmaligen Prozess der Aufarbeitung und des Umgangs mit der eigenen Vergangenheit geleistet. Eine vergleichbare selbstkritische Aufarbeitung hat es vor allem im Süden der USA niemals gegeben. Bei Trumps Wahl im Jahr 2016 konnten wir sehen, welch einen Unterschied so etwas ausmachen kann.

Ihr neues Buch trägt den bemerkenswerten Titel "Gefangene der Zeit". Wie "gefangen" sind wir denn innerhalb der Zeitläufte, wie viel der Krisenhaftigkeit des Jahres 1914 findet sich im übertragenen Sinne in unserer Gegenwart wieder?

Erschreckend viel. Natürlich wiederholt sich Geschichte nicht, aber Vergleiche sind legitim. Wir leben heute erneut in einer Epoche der Multipolarität, wie es sie seit 1918 nicht mehr gegeben hat. So instabil und chaotisch wie das internationale System jetzt ist, war die Welt das letzte Mal vor 1914. Vor allem in Bezug auf das Vertrauen zwischen den internationalen Bündnissen, aber auch innerhalb der Bündnisse selbst.

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Sie spielen auf die Nato an, in der Trump für viel Irritation gesorgt hat. Das Vertrauen in die USA als westliche Führungsmacht ist erschüttert.

Das Schlimmste an Trumps Außenpolitik ist weniger, dass er die Russen hofiert und die Chinesen provoziert. Die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass durch Trumps Gepolter das gegenseitige Vertrauen im westlichen Bündnis so stark ins Schwinden kam. Denn in diesem Punkt ist die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs in der Tat lehrreich: Das schwindende Vertrauen innerhalb der jeweiligen Bündnisse erzeugte viel mehr Risiken, als es das schwindende Vertrauen zwischen den Bündnisblöcken untereinander getan hat.

Bitte erklären Sie das genauer.

Staaten, die nicht wissen, wie ihre Verbündeten im Fall einer Krise reagieren werden, handeln sehr schnell panisch. Und wenn dieser Fall eintritt, wird das gesamte System binnen kürzester Zeit instabil. In unserer krisenhaften Gegenwart kann das niemand gebrauchen.

Tatsächlich jagt heute in der Wahrnehmung vieler Menschen eine Krise die nächste. "Normalität" scheint nicht erst seit Corona in weite Ferne gerückt.

Viel von dem Unbehagen, das die Menschen derzeit verspüren, rührt daher, dass sie wissen, dass die Rückkehr in eine "Normalität" nicht möglich ist. Oder auch gar nicht wünschenswert. Nehmen wir das Beispiel Tourismus und Fliegen. In beiden Bereichen wissen wir nicht, ob die Welt nach den Einschränkungen durch die Corona-Pandemie in dieser Hinsicht wieder dieselbe sein wird. Denn weit oberhalb der Corona-Krise lauert noch der Klimawandel, der aller Voraussicht nach in seinen Auswirkungen deutlich dramatischer sein wird.

Haben wir den Glauben an eine bessere – und vor allem halbwegs berechenbare – Zukunft verloren?

Ja, das ist das eigentliche Problem. Wir können die Zukunft angesichts der vielen Krisen und des technologischen Wandels nicht mehr erkennen. Anders gesagt: Wir Menschen haben eigentlich gar keine Ahnung mehr, in welche Richtung die Fahrt geht. Was verständlicherweise sehr verunsichernd ist. Vor allem fühlen wir uns nicht mehr getragen durch eine Geschichte, die unsere Vergangenheit mit unserer Gegenwart und diese wiederum mit unserer Zukunft verbindet. Das war die tiefere Bedeutung der Rede, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2017 an der Sorbonne zur Zukunft Europas gehalten hat.

Macron hat dafür plädiert, dass wir für ein starkes Europa einstehen und dieses aktiv gestalten müssen.

Das in Berlin aber keinen Widerhall fand.

Ich finde das sehr bedauerlich. Denn die Angelegenheit ist doch sehr einfach: Wenn wir selbst keine Vorstellung haben, in welche Richtung wir in Zukunft fahren wollen, dann treffen uns alle Krisen und Unwägbarkeiten der Gegenwart ungleich härter. Wir müssen also die Zukunft neu kartieren, wie ich es in meinem Buch auch schreibe – und diese Zukunft und die Mittel, sie zu gestalten, müssen "grün" und sozial sein.

Wenn wir Richtung China blicken, sollten wir Europäer uns doch sehr beeilen: Die chinesische Führung weiß sehr genau, wohin sie will. Und welcher Mittel sie sich dazu bedienen möchte.

Viele Aspekte an Chinas Entwicklung der letzten Jahrzehnte sind beeindruckend. Die alten Männer, die dieses riesige Land führen, haben eine ungeheure Zukünftigkeit entwickelt. Also eine Vorstellung davon, was China in Zukunft sein soll. Aber das chinesische Gesellschaftsmodell ist das exakte Gegenteil dessen, was unsere liberalen Demokratien anstreben, und daher für uns im Westen nicht tragbar. China ist ein Überwachungsstaat, in dem die Bürger für sozial und politisch "erwünschtes" Verhalten belohnt werden. Das kann niemals unser Ziel sein. Schauen Sie sich an, was in Hongkong passiert: Dort müssen die Menschen um Rede- und Meinungsfreiheit bangen und kämpfen.

Was kann Europa China entgegensetzen?

In den Fünfziger- und Sechzigerjahren gab es im Westen ein Narrativ, eine Geschichte, mit der sich die Menschen identifizieren konnten. Es ging um Modernisierung und Wachstum, wie die langsame, aber kontinuierliche Verteilung von Reichtum in der Gesellschaft. Und dies unter den Bedingungen einer freiheitlichen Demokratie. Diesen Glauben, dass es uns in der Zukunft besser gehen wird, haben wir irgendwann eingebüßt.

Sind wir zu satt geworden?

Ja, wir sind zu satt geworden. Was alles andere als gut ist. Ich lese gerade ein Buch über die Revolution von 1848 in Europa. Was im frühen 19. Jahrhundert alles an Ideen über die Möglichkeiten menschlicher Entwicklung ersonnen wurde, ist sehr beeindruckend. Sei es von linker, liberaler oder konservativer Seite. Dieses offene Denken ist uns abhandengekommen.

Rechte und linke Parteien offerieren heute durchaus Möglichkeiten, die allerdings oft mehr als fragwürdig sind.

Die Menschheit hat es im 20. Jahrhundert mit extremen rechten und linken Ideologien probiert. Beides ging sehr schlecht aus. Eine gute und ausgeglichene Politik kann nur aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Aber diese Mitte – und das ist wichtig – muss sehr breit aufgestellt sein und stets einen Blick auf die Ränder haben. Natürlich kommt von rechter und linker Seite viel Unsinn, aber dort kündigen sich oft Probleme an, die zunächst nicht gleich erkannt werden. Das muss sich ändern, die Regierenden sollten genauer zuhören. Nur dann kann die Politik der Mitte rechtzeitig reagieren.

Nun hat unser Gespräch einen recht düsteren Verlauf genommen. Sehen Sie denn einen Hoffnungsschimmer in unserer Gegenwart?

Aber natürlich! Im kommenden Jahr wird Donald Trumps Amtszeit Geschichte sein, Impfstoffe werden bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie helfen. Joe Biden wird als US-Präsident eine bessere Politik gestalten, mit Kamala Harris als erster Frau in diesem Amt an seiner Seite. Und ich bin sicher, dass Harris eine sehr zupackende Vizepräsidentin sein wird. Das alles zusammengenommen könnte sich als Zäsur erweisen, dass sich die Dinge zum Besseren wenden. Ich selbst blicke dank dieser Entwicklungen optimistischer in die Zukunft.

Sie haben Donald Trump selbst als "Wiedergänger" bezeichnet. Halten Sie es für möglich, dass er in vier Jahren erneut antreten wird?

Eine erneute Kandidatur Trumps halte ich für sehr unwahrscheinlich. Das Weiße Haus war doch im Grunde ein Abstieg für Donald Trump, als Präsident war er alles andere als glücklich. Er passte nicht zum Amt, und das Amt nicht zu ihm. Ständig musste Trump seinen Schlendrian unterbrechen, nicht einmal die Bezahlung war anständig. Im Vergleich zum "strahlenden" Trump-Tower oder Mar-a-Lago war das Weiße Haus in Trumps Weltsicht auch eher eine Absteige.

Wird ihm der Abschied von der Macht nicht doch schwerfallen?

Donald Trump hat kein besonders komplexes Innenleben, er ist eine leere Hülle und wird sich irgendwie seine Legende stricken. Interessanter als Trumps Zukunft ist die Entwicklung seiner Anhängerschaft, die sich um ihn geschart hat. Ich glaube, dass sie langsam, aber stetig auseinanderfallen wird.

Aus welchen Gründen?

Trumps Wählerschaft ist nicht für die Ewigkeit gebaut. Sie besteht aus Menschen unterschiedlichster Gesellschaftsgruppen. Darunter die Evangelikalen, über die wir schon gesprochen haben. Diese werden sich über kurz oder lang in ihre Milieus zurückziehen.

Nicht nur in den USA hat der Populismus große Erfolge gefeiert, sondern auch in europäischen Staaten wie Ungarn und Polen. Wie konnte das geschehen? Oder anders gefragt: Haben wir Europäer unsere Hausaufgaben nicht gemacht?

Mein Kollege Adam Tooze hat ein sehr interessantes Buch über die Finanzkrise von 2008 geschrieben. Darin zeigt er eine wichtige Tatsache auf; und zwar, dass es damals zumindest in seiner europäischen Dimension keineswegs eine Art Cowboy-Krise gewesen ist, die aus den USA nach Europa herüberschwappte. In Europa haben viele Finanzinstitute gnadenlos gezockt, das Chaos der Krise war die Quittung. Befeuert von den strukturellen Defiziten der Eurozone. Tragischerweise haben dann die Ereignisse von 2008 dafür gesorgt, dass in manchen europäischen Ländern die Demokratie eine derartige Delegitimierung erfahren hat, wie Adam Tooze es beschreibt. Deren Folgen haben wir heute zu tragen.

Aber was ist die Lehre daraus?

Die praktische Lehre besteht in der Einrichtung einer Art finanzpolitischer Feuerwehr, die in solchen Krisen schnell und effektiv hilft. Die andere ist eher grundsätzlicher Art: Transparenz und Verantwortlichkeit müssen sichergestellt werden. Ich will nicht zur Hexenjagd auf Bankmanager blasen, aber diese Menschen müssen wissen, dass sie juristisch belangt werden, wenn sie gegen die Gesetze verstoßen. Denn ich glaube, viele Bürger haben das Gefühl, dass die Finanzinstitute nach eigenen Regeln handeln und die Verantwortlichen niemals die Konsequenzen für Fehlverhalten werden tragen müssen. Das ist gefährlich, das untergräbt die gesellschaftliche Stabilität.

In Ihrem neuen Buch kommen Sie auch auf den Kapitalismus an sich zu sprechen. Ist er "todgeweiht", wie es der deutsche Politikwissenschaftler Wolfgang Streeck schreibt?

Ich bezweifle das. Zurzeit ist das Vertrauen natürlich erschüttert. Der Kapitalismus hat aber doch nur deswegen eine solche Karriere gemacht, weil viele Menschen glaubten, dass irgendwann alle davon profitieren würden. Gegenwärtig konzentriert sich aber immer mehr Geld in den Händen immer weniger Leute. Die vielen Bücher, die in letzter Zeit erschienen sind und das Wort "Ende" im Titel führen, sind ein Symptom der tiefen Verunsicherung. Die Demokratie, so wird es verkündet, wäre etwa am "Ende", der Liberalismus ebenso und natürlich der Kapitalismus.

Und, ist das "Ende" wirklich nahe?

Da kann ich Sie beruhigen. Der Reformator Martin Luther hielt schon vor knapp fünfhundert Jahren das Ende der Welt für nahe. Als es ausblieb, verschob er es einfach in die Zukunft.

Dank der Impfstoffe rückt immerhin das Ende der Corona-Pandemie näher. Wird dann alles wie zuvor sein oder hat das Virus unsere Welt nachhaltig verändert?

Die Menschen werden sich gierig in ihren Alltag stürzen. Und sich so schnell wie möglich wieder in die "Normalität" einfügen.

Werden wir also keine Lehren für die Zukunft aus der Pandemie ziehen?

Die Geschichte lehrt uns nicht viel, aber die historische Betrachtung von Epidemien der Vergangenheit macht eine Tatsache deutlich: Die Menschheit besitzt eine erstaunliche Fähigkeit, unangenehme Ereignisse zu vergessen. Wir vergessen die Angst und die Erschütterungen und machen einfach weiter.

Das ist aber ernüchternd.

Na ja, eher scheint es ein notwendiger Mechanismus für die Überlebenden zu sein, wieder in ihr gewohntes Leben zu finden. Wir sollten also besser nicht davon ausgehen, dass die Lehren aus Corona den Menschen lange im Gedächtnis bleiben werden. Nach Corona wird die Menschheit so dumm sein wie zuvor. Mir würde es schon reichen, wenn wir als soziale Lektion aus der Corona-Pandemie die Erkenntnis ziehen, dass wir dem Pflegepersonal in Krankenhäusern, den Angestellten in Supermärkten oder auch Lieferwagenfahrern viel mehr Respekt entgegenbringen müssen. Diese Menschen sollten auch weit besser bezahlt werden.

Ihre Nüchternheit lässt wenig Gutes für die Bekämpfung der Klimakrise erahnen. Diese Herausforderung ist ja noch größer als Corona.

Auch bei diesem Thema würde ich die Flinte nicht ins Korn werfen. Der Homo sapiens ist auf lange Sicht eine durchaus lernfähige Spezies. Langsam, wahrscheinlich zu langsam, werden wir lernen, mit unserer Umwelt vernünftiger umzugehen.

Kaiser Wilhelm II. hat, wie Sie sagten, nie aus seinen Fehlern gelernt. Nach dem verlorenen Weltkrieg zeigte er keine Reue und vertrieb sich stattdessen die Zeit in seinem Exil in den Niederlanden damit, Tausende Bäume zu fällen.

Das waren die besten Jahre seines Lebens. Aber wir sollten es anders machen als er und die Bäume lieber stehen lassen.

Professor Clark, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Christopher Clark per Videokonferenz
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