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Forscher erklärt, warum Putin im Ukraine-Krieg scheitern wird


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Star-Politologe Fukuyama
"Das hätte ich Putin nicht zugetraut"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 09.02.2023Lesedauer: 7 Min.
Wladimir Putin: Russland wird den Krieg verlieren, vermutet Politikwissenschaftler Francis Fukuyama.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russland wird den Krieg verlieren, vermutet Politikwissenschaftler Francis Fukuyama. (Quelle: Sergei Bobylev)
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Die Kämpfe in der Ukraine toben weiter, doch Francis Fukuyama ist überzeugt: Russland wird scheitern. Warum die Ukraine siegen wird und was für den Westen auf dem Spiel steht, erklärt der berühmte Forscher im Gespräch.

Überraschen wollte Wladimir Putin die Welt am 24. Februar 2022 mit seinem Überfall auf die Ukraine. Doch die eigentliche Überraschung könnte Russlands Machthaber demnächst selbst erleben – denn eine Niederlage der russischen Streitkräfte sei durchaus möglich.

Das sagt mit Francis Fukuyama einer der profiliertesten Politikwissenschaftler der Welt, der einst nach dem Untergang der Sowjetunion mit der These vom "Ende der Geschichte" berühmt geworden ist. Was es damit auf sich hat, warum Wladimir Putin einen Fehler begangen habe und welche Aufgabe der Westen nun übernehmen müsse, erklärt Fukuyama im Gespräch.

t-online: Professor Fukuyama, Sie sind einer der bekanntesten politischen Denker der Gegenwart – allerdings wurde kaum jemand derart missverstanden wie Sie mit Ihrer These vom "Ende der Geschichte".

Francis Fukuyama: Damit muss ich leben. Bis heute werde ich immer wieder darauf angesprochen.

Tatsächlich hat die Öffentlichkeit vor allem die eingängige Formel vom "Ende der Geschichte" aufgegriffen. Weit weniger Leute haben Ihre Argumentation gelesen, die Sie zunächst in einem Essay 1989 und dann 1992 in dem Buch "Das Ende der Geschichte" dargelegt haben.

Dass die Geschichte – wie sie die meisten Menschen verstehen – an ihrem Ende angelangt wäre, habe ich nie behauptet. Stillstand? Nein. Ich bezog mich mehr auf ein Geschichtsbild im Sinne der deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx, die bestimmte Entwicklungsschritte menschlicher Gesellschaften postulierten. Und in Marx' Gedankenwelt war der Kommunismus eben der Endpunkt der Geschichte.

Sie waren 1989 allerdings schon vor dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges anderer Meinung.

Das bin ich auch bis heute. Gesellschaften modernisieren sich, meiner Meinung nach besteht das Ende der Geschichte statt im Kommunismus eher in der liberalen Demokratie. Dass es dabei zu keinerlei Rückschlägen kommen würde, habe ich weder behauptet noch bestritten.

Francis Fukuyama, Jahrgang 1952, lehrt Politikwissenschaft an der amerikanischen Stanford University. 1992 erlangte er mit seinem Buch "Das Ende der Geschichte" internationale Bekanntheit. Fukuyama ist Autor zahlreicher Bücher, im Oktober 2022 erschien mit "Der Liberalismus und seine Feinde" sein neuestes Werk.

Der Krieg des autokratisch regierten Russlands gegen die demokratische Ukraine ist zweifelsohne ein solcher Rückschlag. Schon 1992 haben Sie Zweifel geäußert, ob sich die Demokratie dauerhaft in Russland etablieren könnte.

Die Sowjetunion brach in gewisser Weise zu einem ungünstigen Zeitpunkt zusammen – aus der Retrospektive betrachtet. Um 1989 befand sich die neoliberale Ideologie auf einem Höhepunkt, Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten und Margaret Thatcher in Großbritannien haben ihre Länder nach neoliberalen Gesichtspunkten umgestaltet. Die Vorstellung, dass der Markt effizienter sei und staatliche Interventionen prinzipiell abzulehnen seien, nahm damals geradezu religiöse Züge an.

Was sich in der ohnehin maroden Sowjetunion wie dem Nachfolgestaat Russland als fatal erweisen sollte.

Die Leistungsfähigkeit kommunistischer Volkswirtschaften war zu Recht auf der ganzen Welt verrufen. In der Hochphase des Neoliberalismus herrschte dann aber die Vorstellung, dass die privaten Märkte die Sache schon richten würden, wenn erst einmal die zentrale Wirtschaftsplanung Geschichte sei. So klappt das aber nicht: Märkte funktioniert nur, wenn Staaten mit einem intakten Rechtssystem sie regulieren.

Was weder in der kollabierenden Sowjetunion noch im nachfolgenden Russland unter Boris Jelzin der Fall gewesen ist.

Clevere Oligarchen haben das sofort ausgenutzt, die Folgen spürt Russland noch bis heute. Wladimir Putin hat wiederum schon vor langer Zeit erkannt, wie unverzichtbar die Kontrolle über die privaten Medienkanäle ist. Dabei wurde er zu einem steinreichen Mann. Die Strategie, mediale Macht mit politischer zu verknüpfen, haben etwa Putin in Russland, Viktor Orbán in Ungarn und Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei dabei Silvio Berlusconi nachgeahmt, der das seinerzeit in Italien vorexerziert hatte.

Alle dieser Männer erwähnen Sie in Ihrem neuen Buch "Der Liberalismus und seine Feinde". Und zwar als eingeschworene Gegner einer liberalen Grundordnung.

Putin hat den Liberalismus als eine "obsolete" Doktrin bezeichnet, mein Buch will hingegen deutlich machen, warum er so wichtig ist. Zugegeben, der Liberalismus hat Reformbedarf und wird von vielen Menschen in der Gegenwart als mangelhaft betrachtet. Aber die Geschichte zeigt, dass auch ein Liberalismus mit Mängeln illiberalen System überlegen ist.

In Deutschland verfolgen die Freien Demokraten als Anhänger des Liberalismus ein eher an der Wirtschaft ausgerichtetes Profil. Was verstehen Sie hingegen unter Liberalismus?

Liberale Gesellschaften zeichnen sich durch eine Besonderheit aus: Sie erkennen das Recht des Individuums an, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Das betrifft zum Beispiel die politische Meinung, die Religion oder auch die wirtschaftliche Betätigung. Liberale Gesellschaften akzeptieren Vielfalt nicht nur, sie schützen sie auch.

Sie betonen in Ihrem Buch, wie bedroht der Liberalismus zurzeit ist. Hat Putins Angriffskrieg nun nicht wenigstens dazu geführt, dass die liberalen Demokratien des Westens wieder enger zusammengerückt sind?

Damit hat sich Putin völlig verkalkuliert, ja. Seine Erwartung war es, die Ukraine schnell zu besiegen. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine ging zudem tatsächlich eine Veränderung der Welt einher – zumindest im Westen hätte kaum ein Mensch einen derartigen Krieg in unserer Zeit für möglich gehalten. Die Invasoren sind irgendwie im 20. Jahrhundert stecken geblieben, anders lässt es sich kaum ausdrücken.

Aber trifft das nicht auch auf uns im Westen zu? Wir haben Putins Bereitschaft zum Einsatz äußerster Gewalt trotz eindringlicher Warnungen nicht für möglich gehalten.

Ich stimme Ihnen zu. Putin hat uns eines Besseren belehrt. Nun befinden sich sowohl der Westen als auch Russland in einem Prozess, um der neuen Realität gerecht zu werden. Vor allem die Staaten des Westens sollten sehr gründlich nachdenken – denn in dieser neuen Gegenwart steht unsere liberale Ordnung wirklich auf dem Spiel. Da sollten wir uns nichts vormachen.

Weil nicht allein Russland unter Putin auf den Zerfall des Liberalismus hofft?

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China beispielsweise ist schon seit langer Zeit der Überzeugung, dass der Westen und die liberale Demokratie im Niedergang begriffen sind. Dem hat das Land ein autoritäres Modell als Alternative entgegengesetzt. In zahlreichen Staaten hat zudem der populistische Nationalismus einen Aufschwung erlebt. Nehmen wir Ungarn und die Türkei, aber auch Indien – diese Länder werden von Politikern geführt, die die liberale Ordnung nicht respektieren. All dies führt zu einer Instabilität, die die Welt seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr erlebt hat.

Waren Sie persönlich denn von dem russischen Überfall auf die Ukraine am vergangenen 24. Februar überrascht?

Ehrlich gesagt, ja. Meine Vermutung war eher, dass Russland durch den massiven Truppenaufmarsch seine Forderungen durchsetzen wollte. Dass sie gleich den Sturz der Regierung von Wolodymyr Selenskyj beabsichtigten? Das hätte ich Putin nicht zugetraut.

Nun ist die russische Invasion vom Februar 2022 bereits der zweite Überfall auf die Ukraine seit der Wegnahme der Krim 2014. Hätte der Westen die Ukraine danach nicht besser schützen sollen?

Die Reaktion der Vereinigten Staaten wie des gesamten Westens auf die Annexion der Krim durch Russland war sehr schwach. Das gab Putin das Gefühl, mit allem durchzukommen – aller Wahrscheinlichkeit nach. Eigentlich ist der russische Präsident ein sehr altmodischer Mensch, der der überholten und irrigen Ansicht ist, dass erobertes Land automatisch ihm gehört. Er und Russland sind in dieser Denkweise gefangen.

Putin ist aber nicht nur auf Landraub aus, sondern will auch dem Westen und dem Liberalismus Schaden zufügen.

Putin kann – vor seinem Hintergrund als früherer KGB-Mann – einfach nicht glauben, dass Menschen aus eigenem Antrieb auf die Straße gehen, um der Regierung ihren Protest kundzutun. In seiner Welt sind solche Aktionen, wie die des Euromaidan 2013 und 2014 in Kiew, von Geheimdiensten gesteuert. Einfach deshalb, weil es der KGB so gemacht hätte. Der Westen muss Russland nun die Grenze aufzeigen – und der Ukraine die nötigen Waffen liefern, um den Krieg zu gewinnen.

Ist die Ukraine denn überhaupt dazu in der Lage?

Die Ukraine kann Russland besiegen, daran habe ich keinen Zweifel. Putins Niederlage ist höchstens eine Frage der Zeit. Denn die Motivation der Ukrainerinnen und Ukrainer ist viel höher, sie erhalten neben anderen Waffen nun auch Kampfpanzer aus dem Westen.

Nach viel Hin und Her auch aus Deutschland.

Deutschland hat lange für diese Entscheidung gebraucht, vielleicht zu lange. Aber nun ist sie zum Glück gefallen. Wir müssen die Ukraine aber fortwährend derart unterstützen, dass sie immer weitere Teile ihres von Russland besetzten Territoriums zurückerobern kann. Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass die ukrainische Armee bis zum Sommer zumindest den südlichen Teil des Landes komplett befreien kann.

Dort befindet sich auch die Halbinsel Krim, die sich Russland schon 2014 einverleibt hat.

Genau. Für Russland ist die gewaltsam hergestellte Landverbindung zwischen der Krim und Russland sehr wichtig. Wenn die ukrainischen Streitkräfte so erfolgreich sind, dass die russische Armee unsicher wird, ob sie die Krim halten kann, könnten ernsthafte Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau möglich werden.

Würde Putin im schlimmsten Fall zur Atombombe greifen? Entsprechende Drohungen seitens Russlands sind Legion.

Das würde selbst Putin nicht wagen. Der Einsatz einer Atombombe würde Russland auch nicht helfen. Weder politisch noch militärisch. Im Gegenteil, der Westen würde bedrohliche Konsequenzen einleiten, Moskau zudem die Unterstützung von Staaten wie China und Indien einbüßen.

Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat darauf hingewiesen, dass Russland diesen Krieg verlieren muss. Weil sonst keine Veränderung im Land möglich sein wird.

Wer weiß, was am Ende dieses Krieges sein wird. Wichtig ist aber, dass die Ukraine sehr starke Garantien für ihre Fortexistenz erhält. Und Russland deutlich klargemacht wird, dass es nicht nur ein paar Jahre warten muss, bis es wieder einen Krieg vom Zaun brechen kann.

Wir haben bereits über Rückschläge auf dem Weg hin zum "Ende der Geschichte" gesprochen. Wie schwerwiegend ist der Rückschritt in Form des russischen Krieges gegen die Ukraine?

Eine vollständige Bilanz können wir noch nicht ziehen. Fest steht aber, dass Russland einen gewaltigen Fehler begangen hat. Der russische Angriff auf die Ukraine war sogar der größte strategische Fehler, dem ich in meinem Leben beigewohnt habe.

Nun wird immer wieder eine Aggression Chinas gegen Taiwan befürchtet. Wie schätzen Sie die Gefahr ein?

China beobachtet den Krieg gegen die Ukraine genau. Der bisherige Verlauf rät allerdings eher davon ab, eine Invasion zu versuchen. Die Aufgabe des Westens besteht nun obendrein darin, autoritäre Staaten von genau solchen Aggressionen abzuhalten. Dazu müssen sie wirtschaftlich unabhängiger von diesen werden – und zugleich ihre militärische Stärke ausbauen.

Also sind Liberalismus und Demokratie gerade unter Feuer, aber durchaus in der Lage, sich zu wehren?

Wir müssen die langfristige Entwicklung im Blick haben. Autoritäre Staaten werden keineswegs besser regiert oder produzieren bessere Ergebnisse als liberale Gesellschaften. Seien wir ehrlich: Es ist besser in einem Staat zu leben, in dem die Macht durch demokratische Institutionen eingehegt wird und Führer zur Rechenschaft gezogen werden können. Je mehr Demokratien auf der Welt existieren, desto friedlicher wird es zugehen. Davon bin ich überzeugt.

Professor Fukuyama, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Francis Fukuyama via Videokonferenz
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