Autor Rushdie mit Messer attackiert Seit 30 Jahren muss er seine Ermordung fürchten
Radikale Islamisten haben ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt – auf eine Leibwache verzichtete Salman Rushdie zuletzt dennoch. Nun wurde er Opfer eines Angriffs.
Vor rund drei Jahrzehnten wurde er von militanten Islamisten für vogelfrei erklärt – nun ist der renommierte Autor Salman Rushdie bei einem Angriff im US-Bundesstaat New York durch mehrere Messerstiche schwer verletzt worden. Rushdies Agent Andrew Wylie sagte wenige Stunden nach der Attacke vom Freitag der "New York Times", der Schriftsteller werde künstlich beatmet und könnte ein Auge verlieren. Hier lesen Sie mehr dazu.
Das Motiv des 24-jährigen Angreifers, der während einer Literaturveranstaltung in der Kleinstadt Chautauqua über Rushdie hergefallen war, ist noch unklar. Im Zentrum der Spekulationen steht die Fatwa, die das einstige geistliche Oberhaupt des Iran, Ayatollah Khomeini, 1989 gegen den indisch-britischen Schriftsteller ausgerufen hatte. In seiner religiösen Anweisung hatte Khomeini alle Muslime zur Tötung des Schriftstellers aufgefordert.
Anlass der Fatwa war Rushdies Bestseller "Die satanischen Verse". Nach Ansicht radikaler Muslime beleidigt das Buch den Propheten Mohammed. In den Jahren nach der Fatwa lebte Rushdie in ständiger Todesgefahr und unter Polizeischutz der britischen Regierung an wechselnden Orten. Derart geheim war sein Aufenthaltsort, dass ihn nicht einmal seine eigenen Kinder kannten.
Bis heute Kopfgeld ausgesetzt
Auch die Gefahr, in der er nach 1989 lebte, hielt ihn nicht vom Schreiben ab. Im Verborgenen schrieb Rushdie seine Memoiren – unter dem Decknamen "Joseph Anton", der eine Hommage an seine Lieblingsautoren Joseph Conrad und Anton Tschechow darstellt.
Bis heute ist ein Kopfgeld auf den Schriftsteller ausgesetzt. Auch der Tötungsaufruf gegen Rushdie wurde nie aufgehoben. Drohungen und Boykotte gegen literarische Veranstaltungen, an denen Rushdie teilnahm, gab es auch weiter.
Nach Angaben seines Verlags aus dem vergangenen Jahr hat die Fatwa des Ajatollahs für Rushdie inzwischen aber längst keine Bedeutung mehr. Er sei nicht mehr eingeschränkt in seiner Bewegungsfreiheit und brauche auch keine Bodyguards mehr.
Lebensgefahr? "Das ist lange her"
In einem Interview mit dem "Stern" nur wenige Tage vor dem Attentat antwortete Rushdie auf die Frage nach der Lebensgefahr: "Das ist lange her." Und: "Für einige Jahre war es ernst", wird er zitiert. "Aber seit ich in Amerika lebe, hatte ich keine Probleme mehr." Sein Leben sei wieder sehr normal.
1947 als Kind nicht praktizierender, wohlhabender Muslime im indischen Mumbai geboren, wurde Rushdie im Alter von 13 Jahren auf ein englisches Internat geschickt. Später studierte er an der Elite-Universität Cambridge. Bevor er Bücher zu schreiben begann, arbeitete er in der Werbebranche.
Der Durchbruch als Schriftsteller gelang ihm 1981 mit seinem zweiten Roman "Mitternachtskinder". Das Buch wurde in 40 Sprachen übersetzt und mit dem Booker-Preis ausgezeichnet. Rushdie schrieb Sachbücher, Romane und Kurzgeschichten – sein höchstes Gebot war dabei stets die Verteidigung der Freiheit.
"Es gibt kein Recht, nicht gekränkt zu werden"
Immer wieder mischt sich Rushdie selbst in hitzig geführte gesellschaftliche Debatten ein und scheut sich nicht davor anzuecken. Beispielsweise ist er kein Fan der auch als "Cancel Culture" bezeichneten Bereitschaft, bestimmte Meinungsäußerungen – selbst aus gut gemeinten Gründen – zu unterdrücken. Rushdie formuliert es so: "Es gibt kein Recht darauf, nicht gekränkt zu werden."
2015 stellte sich Rushdie hinter die französische Satirezeitung "Charlie Hebdo", nachdem Islamisten die Redaktion gestürmt und mehrere ihrer Mitglieder getötet hatten. In "Charlie Hebdo" waren zuvor Karikaturen des Propheten Mohammed erschienen.
Viermal verheiratet und geschieden, lebt der Schriftsteller heute in New York. Dort spielt auch sein 2015 veröffentlichter Roman "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte" – ein Buch über den Kampf zwischen Religion und Vernunft, in dem Rushdie den Aufstieg der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) vorhersagte. Es tue ihm leid, dass dieses Buch wahr geworden sei, sagte Rushdie in einem Interview mit dem Nachrichtensender France 24.
"Satanische Verse" seien "sehr missverstanden" worden
Zu seinem folgenschweren Werk "Die satanischen Verse" sagte Rushdie, das Buch sei "sehr missverstanden" worden. "Es war eigentlich ein Roman über südasiatische Einwanderer in London. Ihre Religion war nur ein Aspekt dieser Geschichte."
Rushdies Stil wird als Magischer Realismus bezeichnet, in dem sich realistische mit fantastischen Ereignissen verweben. Dennoch sieht er sich unbedingt der Wahrheit verpflichtet. "Die Literatur, welche Technik auch immer sie verwendet, realistisch oder fantastisch, versucht einem eine Form der Wahrheit über das menschliche Wesen zu vermitteln", erläutert er.
Wahrheit, die er als Konzept zunehmend in Gefahr sieht, steht auch im Zentrum seiner jüngsten Veröffentlichung, einer Sammlung von Essays, die in Deutschland unter dem Titel "Sprachen der Wahrheit" herauskam. Hier lesen Sie mehr. Der Schriftsteller stemmt sich gegen Trumpisten und Corona-Leugner. "Die Wahrheit ist ein Kampf, das ist keine Frage. Und vielleicht noch nie so sehr wie jetzt", sagte er in einem Interview des US-Senders PBS im vergangenen Jahr. Rushdie veröffentlichte insgesamt mehr als zwei Dutzend Romane, Sachbücher und andere Schriften.
- Nachrichtenagenturen AFP und dpa
- stern.de: "Rushdie wenige Tage vor dem Attentat: Die Gefahr? Lange her"