Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Merz vor der Kanzlerschaft Die Sorge ist verständlich – und übertrieben

Nur eine Minderheit hat Vertrauen in Friedrich Merz. Um daraus eine Mehrheit zu formen, muss er bei den Bürgern dauerhaft für seine Politik werben und Tatkraft im Irrsinn der Welt beweisen.
Es ist gar nicht zu übersehen, dass Friedrich Merz nicht viel Vertrauen erweckt. Die Deutschen, erzählen uns die Umfragen, sind in ihren Erwartungen in Bezug auf das, was der nächste Kanzler leisten kann, gespalten. Diese Tatsache ist ebenso verständlich wie übertrieben.
Verständlich ist es, weil Olaf Scholz eine Enttäuschung war. Die Ampel hatte große Worte gelassen ausgesprochen und nach dem Überfall auf die Ukraine sogar angemessen gehandelt, bevor sie sich verhedderte und gegenseitig blockierte. Kein Wunder, dass CDU, CSU und SPD große Worte scheuen, was ihnen nun aber als Mangel an Vision und Tatkraft angekreidet wird.
Also, was mich betrifft, habe ich eine Aversion gegen Visionen. Visionen sind ihrer Bedeutung nach nicht zufällig sowohl Wunschbilder als auch Trugbilder. Ich bin da ganz bei Helmut Schmidt, der einst meinte, wer Visionen hat, solle den Arzt aufsuchen.
Hätte er bei seiner Meinung bleiben sollen?
Mir genügt es, wenn Regierungen Ziele formulieren und Mittel beschreiben, wie sie erreicht werden sollen. Dann lassen sie sich daran messen, ob sie die richtigen Ziele ins Auge fassen und ob die Mittel dafür angemessen erscheinen.
Wie steht es damit? Nicht ganz so schlecht, wie Merz und seine künftige Regierung beurteilt werden. Dass er seine Prioritäten geändert hat, entsprang nicht seinem Privatvergnügen, es ist geschichtlicher Entwicklung geschuldet. Hätte Merz unter den veränderten Umständen bei seiner Meinung bleiben sollen, dass nicht an der Schuldenbremse gerüttelt werden sollte?
An Tatkraft fehlt es ja eigentlich nicht, wenn eine Regierung zum Beispiel viele Hunderte Millionen für den Aufbau der Bundeswehr bereitstellt. Damit beweist sie doch wohl Mut, oder? Dass aber viele Menschen Unbehagen empfinden wegen der furchterregenden Menge an Schulden, die diese neue Koalition aufnimmt, ist verständlich.
Das ist bedenklich
Die entscheidende Frage lautet: Ist Aufrüstung nötig oder nicht? Nur eine Minderheit von knapp 40 Prozent hält sie für nötig – ich finde die geringe Zahl erstaunlich. Man könnte ja sagen, ich glaube nicht, dass Putin schon bald ein Nato-Land angreift und wir deswegen in den Krieg eintreten müssen, aber Vorsorge ist in dieser unsicheren Welt vermutlich richtig. Diese Ambivalenz wäre nicht unsympathisch und einer Demokratie, die eben noch dem Pazifismus zuneigte, durchaus angemessen. Aber wenn man unterstellen muss, dass die Fahrlässigkeit, mit der AfD, Linke und BSW so tun, als sei Russland harmlos, Anklang auch bei vielen Nichtwählern dieser Parteien findet, wird es schon bedenklich.
Kanzler mussten bisher nicht unbedingt gute Redner sein. Friedrich Merz muss es. Denn jetzt geht es für ihn darum, aus der Minderheit eine Mehrheit zu formen. Er kommt gar nicht darum herum, immer wieder für seine Ziele und Mittel zu werben. Dazu genügt nicht ein Auftritt vor Unternehmern oder Gewerkschaften oder ausgesuchtem Publikum. Er muss sich schon an das Volk wenden oder weniger pathetisch ausgedrückt: an die Bürger. Von seiner Ernsthaftigkeit und seinem Engagement hängt ab, ob er Erfolg hat oder nicht.
Verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, ist schwer, das weiß man aus dem Privatleben. Da genügt die eigene Überzeugung nicht, das Richtige zu tun. Dafür müssen sich auch die richtigen Worte jenseits des Polit-Sprechs finden, damit die Zuhörer auch wirklich zuhören. Geduld gehört dazu, auch eine gewisse Demut. Sollte er noch keine vorzüglichen Redenschreiber und Ratgeber haben, sollte Friedrich Merz sie besser rasch finden.
Gemach, gemach?
Na ja, lässt sich einwenden, wir sind ja erst im Übergangsstadium. Die SPD muss dem Koalitionsvertrag erst noch zustimmen, was immer auch ein Risiko ist. Dann tritt das Parlament zur konstituierenden Sitzung zusammen und wählt den Kanzler. Gemach, also?
Aber gemach gibt es nicht in einer Welt, in der der Irrsinn waltet. Was heute nicht bedacht wird, was heute nicht vorbereitet wird, geht womöglich morgen in der wilden Jagd der Ereignisse unter, die andauernde internationale Abstimmung erfordern – wegen des Zollkriegs, der Abkehr der USA von der Nato, der Transformation Europas oder des Ukrainekriegs.
Da ist es kein Fehler, wenn der Koalitionsvertrag regelt, was zu regeln ist. Da die Weltpolitik einem Kanzler, der seinem Land Gewicht geben will, alles abverlangen wird, ist es gut, wenn zu Hause manches schon in trockenen Tüchern ist.
Die Zeiten wenden sich
Wirtschaft ist auch im Kapitalismus nicht alles, aber ohne eine einigermaßen florierende Wirtschaft ist alles nichts. Also, die nächste Regierung will Investitionen erleichtern und Arbeit steuerlich entlasten, dazu die Bürokratie reduzieren und in die Infrastruktur investieren, auch die Energiekosten für Unternehmen senken. Ist doch was, oder?
Alles, was schiefläuft in Deutschland, bündelt sich für viele Menschen in der Immigrationspolitik. Darüber lässt sich nicht rechten, es ist, wie es ist. In den nächsten mutmaßlich vier Jahren findet ein Duell zwischen Union und AfD um die Meinungsführerschaft statt, wer hierbleiben darf oder gehen muss, wie mit den Immigranten umgegangen wird und wie viele von ihnen das Land bereichern.
Die Zeiten wenden sich. International und national. Ökonomisch und kulturell. Friedrich Merz muss sich mit ihnen wenden. Schon mal aus Eigeninteresse sollten wir ihm Glück wünschen und ihm vielleicht sogar einen Vertrauensvorschuss gewähren. Und hoffen, dass er kann, was er können muss.
- Eigene Meinung