Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Grenzenlose Erwartungen Nicht wie bei Bibi Blocksberg
Die Erwartungen sind grenzenlos. Die deutsche Fußballnationalmannschaft soll nicht nur Europameister werden, sondern obendrein noch das ganze Land aus der Krise führen. Unser Kolumnist hätte da einen anderen Vorschlag.
Auf endlosen Autofahrten hat mich ein kleines Mädchen namens Bibi Blocksberg immer wieder einmal an den Rand der Hirnerweichung gebracht. Einfach nur, weil ein anderes, noch kleineres Mädchen auf dem Rücksitz die Hexentochter und deren Mutter so gerne mochte, dass auf längeren Reisen andächtige Ruhe war. Bibi Blocksberg sorgte für diese Stille, ein ansonsten normales Mädchen, das ab und zu auf einem Besen reitet (der Kartoffelbrei heißt, wieso eigentlich Kartoffelbrei?) und mit hingeknittelten Zaubersprüchen Probleme schlagartig löst. "Hex! Hex!" ruft sie zum Schluss des Zauberspruches – und alles wird gut.
So ähnlich stellt sich das eine Menge hochmögender Leute gerade auch vor. Der Nagelsmann und seine Mannschaft reiten zwar nicht auf Kartoffelbrei, aber kaum spielen sie ein bisschen ordentlichen Fußball, schon lösen sich der Reformstau, die Rezession und die Geldnot im Bundeshaushalt in Boom, Geldregen und Investitionsfreude auf. Hex! Hex!
Zur Person
Christoph Schwennicke ist Politikchef und Mitglied der Chefredaktion von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Bei t-online erscheint jeden Donnerstag seine Kolumne "Einspruch!".
Mit Verlaub: Die Geschichte von Bibi Blocksberg ist schon selten dämlich, aber eben eine Kinderserie für Kindsköpfe im tatsächlichen Wortsinn. Doch wenn sich erwachsene Menschen vor lauter Wunschdenken in so einen Blödsinn versteigen, dann wird es wirklich bedenklich.
Fußball ist unser Leben, und König Fußball regiert die Welt, ich weiß schon. Und, ja: Die Hälfte der Wirtschaft ist Psychologie. Auch diese Plattitüde ist mir bekannt. Aber mal abgesehen davon, dass nie jemand den Beweis für diese Behauptung angetreten hat: Reden wir doch mal über die andere Hälfte.
Und da ist es so: Wirtschaftswachstum in Deutschland dieses Jahr voraussichtlich 0,3 Prozent. Weltweit drei Prozent. Also ein Zehntel. Deutschland dümpelt. 16 Jahre Verwaltungstätigkeit der obersten Amtsdirektorin Angela Merkel sowie anschließende bald drei Jahre Selbstblockade einer als Fortschrittskoalition angetretenen Regierung: macht 19 Jahre Stillstand. Und die köpft dann Füllkrug in der 91. Minute hinfort? Ich schmeiß’ mich weg.
Mehr Serotonin als nach einer Tafel Schokolade
Natürlich schüttet der Körper bei einem schönen Fußballspiel, das die eigene Mannschaft auch noch gewinnt, mehr Serotonin aus als bei einer Tafel Schokolade. Aber jetzt bitte mal einen Blick auf die Fakten. Laut Statista betrachten sich etwa 15 Prozent der Bevölkerung als fußballbegeistert. Schlagen wir generös bei einer Europameisterschaft noch mal zehn Prozent obendrauf, dann sind wir bei einem Viertel aller hier lebenden Menschen. Wer das als entscheidende Größe begreift, die einen Umschwung im großen Stil herbeiführt, der hält auch die Echokammern von X und Co. für ein repräsentatives Abbild der Wirklichkeit und des Meinungsspektrums.
Liebe Fußballfreunde, noch mal: Wir freuen uns wirklich für euch über den Spaß, den ihr gerade habt. Aber bitte wenigstens aus dem Augenwinkel mal wahrnehmen: Die überwiegende Mehrheit des Landes interessiert sich nicht für Fußball. Nicht die Bohne. Und wieso soll etwas, das mir wurscht ist, in mir den Hebel umlegen?
Und wenn schon Ekel Alfred, dann richtig: Diese vierwöchige Veranstaltung stimuliert nicht den Wirtschaftsstandort Deutschland. Wenn sie überhaupt einen Einfluss hat, dann lähmt sie das Land ökonomisch. Überall sind jetzt die Sitzecken mit den vor Bierdosen überquellenden Kühlschränken installiert, Riesenflachbildschirm an der Stirnseite. Nichts gegen ein bisschen Geselligkeit, neudeutsch: Socializing im Büro, aber die Produktivität steigern 90 gemeinsame Minuten vor dem Bildschirm bei einem Achtstundentag ganz sicher nicht. Und es sind in der Vorrunde zwei bis drei Spiele am Tag gewesen.
Schön wäre auch, wenn nicht alles, was sich da auf dem Rasen abspielt, gleich als Sensation begriffen würde. Nehmen wir das 5:1 gegen Schottland, wirklich ein gutes Spiel, wenn das ein Laie so sagen darf. Aber, Verzeihung: Schottland rangiert auf der Weltrangliste des Fußballs auf Platz 39. Und das glimpfliche und glückliche Unentschieden gegen die Schweiz wurde gegen einen einstigen Fußballzwerg nach Hause gezittert. Der inzwischen aber nur noch drei Plätze hinter Deutschland auf dieser Liste steht. Im Mittelfeld.
Die Lust am Spektakel
Das Bohei zwischen schon so gut wie Europameister (nach dem Schottlandauftritt) und in tiefer Krise (nach dem Spiel gegen die Schweiz), ist überflüssig oder heißt für den Zustand des Landes: exakt überhaupt nichts, gar nichts! Es befriedigt eine Lust am Spektakel, am Taumel der Gefühle, das ist auch okay. Mehr ist da aber nicht.
Es schimmert zwischen diesen Zeilen hoffentlich ein bisschen durch, was ich von der These "Mit dem Fußball aus der Krise" halte. Zum Schluss möchte ich diesem gängigen, aber unsinnigen Topos eine eigene These entgegenhalten: Guter Sex ist für den Aufschwung wichtiger als guter Fußball. Das lässt sich zwar ebensowenig beweisen wie die Fußballthese. Aber wir haben wenigstens mehr aktiven Einfluss darauf, als ohnmächtig vor der Glotze zu sitzen und Wohl und Wehe des Landes in die Hände von Julian Nagelsmann und seinen Jungs zu legen. Jetzt sind Sie dran.
- Eigene Überlegungen, gelegentliches Verfolgen der Spiele im TV