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HomePolitikChristoph Schwennicke: Einspruch!

Ukraine-Krieg: Könnte längst Frieden sein? Es kursieren falsche Theorien


Meinung
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Krieg in der Ukraine
Könnte längst Frieden sein?

MeinungEine Kolumne von Christoph Schwennicke

02.05.2024Lesedauer: 4 Min.
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Falscher Bruder? Hat der vormalige britische Premier Boris Johnson den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in einen langen Krieg getrieben? (Quelle: IMAGO/Pool /Ukrainian Presidentia/imago)
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Im April vor zwei Jahren, kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, scheiterten Friedensverhandlungen. Das ist eine Tatsache. Aus der aber falsche Theorien abgeleitet werden. Sie folgen einem immergleichen Muster.

Neulich traf ich einen langjährigen Bekannten, der über die Jahre zum guten Freund geworden ist. Belesen, historisch bewandert, rhetorisch geschliffen, Wissenschaftler. Unvermeidlich kommt das Gespräch auf den Ukraine-Krieg. Wenige Wochen nach Kriegsausbruch gab es Verhandlungen des Westens, der Ukraine und Russlands. Man hätte sich auf ein Abkommen einigen können, sagt er. Boris Johnson, der damalige britische Premier, habe alles torpediert und die Ukrainer aufgestachelt, einem Frieden nicht zuzustimmen, der zum Greifen nahe gewesen sei. Das wisse doch nun jeder, der sich ordentlich informiere. Stehe in "Foreign Affairs", der renommierten amerikanischen Fachzeitschrift für Außenpolitik. Nur eben nicht in den deutschen konventionellen Medien.

Wenige Tage nach diesem Abend veröffentlicht die "Welt am Sonntag" das Papier, das der Behauptung meines Freundes zugrunde lag. Tatsächlich eine starke Rechercheleistung eines Kollegen dort, an das Originaldokument gelangt zu sein. Was aber er und die Zeitung daraus machten, gaben die Schlüsselpassagen gar nicht her. "Vorteilhaft" sei der Entwurf dieses Abkommens für die Ukraine gewesen, urteilte der Kollege dazu im hauseigenen Fernsehkanal und insinuierte so, als sei wenige Wochen nach dem missglückten Marsch auf Kiew seitens der Russen ein Frieden leicht möglich gewesen.

Christoph Schwennicke
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Christoph Schwennicke ist Politikchef und Mitglied der Chefredaktion von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Bei t-online schreibt er jeden Donnerstag seine Kolumne "Einspruch!" Die Liste seiner Beiträge finden Sie hier.

Bei genauer Lektüre erweist sich, dass dieses Urteil mehr dem Sensationsbedürfnis und Selbstdarstellungsdrang einer Zeitung in schweren Zeiten unserer Branche geschuldet war als den Tatsachen auf dem Papier. Demnach hätte die Ukraine nicht nur (worauf es in der Tat vermutlich eines Tages hinauslaufen wird) neben der Krim weitere russisch besetzte Teile im Osten abgeben müssen, deren genaue Grenzen nach russischer Vorstellung Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj bei einem persönlichen Gespräch hätten festlegen sollen.

Die Ukraine hätte zudem auf belastbare Sicherheitsgarantien verzichten müssen. Zwar sah das Dokument auch Beistandsgarantien für die Ukraine vor: Doch um diese Garantien im Falle eines erneuten Angriffs eines Aggressors (also Russland) zu aktivieren, hätten alle Garantiemächte zustimmen müssen – zu denen neben dem Westen auch Russland gehören sollte. Genau mein Humor. Russland greift an und hat zugleich ein Vetorecht gegen die Verteidigung der Ukraine durch den Westen, also die Nato. Gegen diesen Deal fußte der Hitler-Stalin-Pakt auf einem betonfesten und unerschütterlichen Fundament.

Und ewig frisst der Gerüchtewurm

Trotzdem frisst sich der Gerüchtewurm nach einem immergleichen Muster gerade bei den sich besonders kritisch wähnenden Zeitgenossen tief hinein. Die Begebenheit abends mit meinem Freund war wie ein Déjà-vu: Es mag ein Jahr her sein, da traf ich einen wirklich klugen und seinerzeit ranghohen Militär, der fest davon überzeugt war, dass vor Ausbruch des Krieges, unmittelbar vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, in Genf bei Verhandlungen der Westen sehenden Auges die Chance vergab, eine Einigung mit Russland hinzubekommen.

Mehr noch als sehenden Auges: eher absichtlich. Genauso verhält es sich auch mit der Fama der sogenannten Rambouillet-Lüge aus den Zeiten der Kriege auf dem Balkan: Ein ideologisch gefestigter Journalist der "taz" hatte vier Jahre nach dem Treffen des Westens mit Serbien und dessen Machthaber Slobodan Milošević im gleichnamigen französischen Schloss "herausgefunden", dass der Westen, in dem Fall der amerikanische Chefverhandler Richard Holbrooke, den Serben absichtlich unannehmbare Bedingungen vorsetzte, um endlich die Bomber Richtung Belgrad Kurs nehmen zu lassen.

Der Plot ist immer der gleiche: Es sind die bösen USA, die den Krieg wollen, weil am Ende ihre Hegemonie davon abhängt. Und ihr militärisch-industrieller Komplex sowieso. Boris Johnson kann man in dieses Narrativ getrost einbeziehen. Die Amerikaner sind bekanntlich am Ende nichts anderes als ausgewanderte Angelsachsen. Und jedes Mal gehen sensationslüsterne (oftmals auch ideologiegetriebene) Medien oder einzelne Journalisten eine unselige Liaison ein mit Zeitgenossen, die von Argwohn und Vorbehalten gegenüber den USA durchdrungen sind und sich für besonders clever und kritisch halten.

Aus eben dieser Melange macht Sahra Wagenknecht Politik und schlägt für ihr Bündnis Kapital daraus. Sie tingelt mit der These meines Freundes durch die Lande. Das ist Populismus für Intelligente – im Unterschied zum Populismus für Einfältige, den die AfD betreibt. Und es funktioniert in einem erschreckenden Ausmaß. Bei den Einfältigen ebenso wie bei manchen Klugen.

Der Westen hat Fehler gemacht, na klar

Natürlich sind die Dinge komplex, die zum Krieg in der Ukraine geführt haben. Der Westen und die USA haben große Fehler gemacht, ohne Frage. Barack Obama verantwortet das so fürchterliche wie überflüssig triumphale Wort von der "Regionalmacht" Russland. Die Osterweiterung der Nato und der EU hätte feinfühliger vonstattengehen müssen. (Ein Versprechen, dass es die Osterweiterung in diesem Ausmaß nicht geben werde, ist gleichwohl entgegen einem weiteren Gerüchtewurm auch nie offiziell abgegeben worden.)

Westliche Politiker, darunter der damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle, hätten auf dem "Euro-Majdan" in Kiew Russland nicht ohne Not provozieren müssen. Und der gesamte Westen hätte 2007 Wladimir Putin genauer zuhören müssen bei seiner unverblümten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz.

Aber all das ändert nichts, aber auch gar nichts an dieser Tatsache: Niemand außer eben jenem Wladimir Putin hat diesen entsetzlichen Krieg zu verantworten. Und Boris Johnson ist, mit Verlaub, ein Fluch der jüngeren politischen Geschichte Europas, verantwortlich für den schlimmsten Fehler der britischen Politik seit Kriegsende. Aber es lag doch nicht an seinem (in dem Fall richtigen) Ratschlag an die Ukrainer, seinerzeit im April vor zwei Jahren nicht auf das vergiftete Angebot Russlands eingegangen zu sein.

Hoffen auf die Schweiz

Statt sich mit Lust (auf einem ordentlichen Fundament an Antiamerikanismus) an angeblich mutwillig vergebenen Friedenschancen zu weiden, sollten wir den Blick und unsere Hoffnung lieber nach vorne richten. In der Schweiz wird es im Juni einen Friedensgipfel geben, zu dem aber leider Russland nicht kommen wird. Es kann nur eine erste Etappe auf dem diplomatischen Weg sein.

Wirkliche Hoffnung kann man sich aber erst machen, wenn an einem solchen Tisch wo immer auf der Welt neben Russland auch die Türkei und vor allem China mit am Tisch sitzen. Diese beiden Länder haben den Schlüssel für eine Lösung jenseits des Schlachtfeldes in der Hand.

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