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Kevin Kühnert (SPD): "Wadenbeißer ist zu Recht aus der Mode gekommen"


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Kevin Kühnert
"Der Wadenbeißer ist zu Recht aus der Mode gekommen"


Aktualisiert am 04.12.2021Lesedauer: 9 Min.
Kevin Kühnert: Vom Juso-Chef, zum Parteivize und jetzt zum Generalsekretär.Vergrößern des Bildes
Kevin Kühnert: Vom Juso-Chef, zum Parteivize und jetzt zum Generalsekretär. (Quelle: Florian Gaertner/photothek.de/imago-images-bilder)
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Kevin Kühnert rückt als Generalsekretär an die Spitze der SPD. Wie will er die Partei als Chefstratege verändern? Und wie mögliche Konflikte mit Kanzler Olaf Scholz beilegen? Ein Interview.

Herr Kühnert, Sie wollen neuer Generalsekretär der SPD werden. Werden Sie der klassische Wadenbeißer sein?

Der Wadenbeißer ist als Jobbeschreibung für einen Generalsekretär zu Recht aus der Mode gekommen. Das war ich nie und will es auch nicht sein. Das bedeutet dann im Umkehrschluss aber auch nicht, dass man als Kuschelbär rumläuft. Ich muss und will als Generalsekretär der Anwalt der Partei und ihres Programmes sein.

Dem künftigen Kanzler Olaf Scholz wurde in seiner Zeit als Generalsekretär der Spitznamen "Scholzomat" verpasst, weil er die immer gleichen Floskeln wiederholte. Fürchten Sie, ein ähnliches Schicksal zu erleiden, weil Sie Dinge vertreten müssen, bei denen Sie denken: Da weiß doch jeder, dass ich das eh nicht glaube?

Man sollte sich nicht verstellen, davon hat doch keiner etwas. Würde ich das tun, wäre das Kommunikation für den Mülleimer. Aber mir ist klar, dass Politik keine Ego-Show ist. Als Generalsekretär werde ich nicht als Privatperson sprechen, sondern für meine Partei – in ihrer ganzen Vielfältigkeit, aber auch in ihrer Eigenständigkeit. Dieser Verantwortung bin ich mir bewusst.

Auf dem Juso-Bundeskongress vor wenigen Tagen waren Sie ziemlich angriffslustig. Nachdem Olaf Scholz den Jusos den "kleinen Tipp" gab, sich nicht so an den Koalitionspartnern abzuarbeiten, gaben Sie ihnen den gegenteiligen Tipp. War das schon der Generalsekretär Kevin Kühnert oder noch der Ex-Juso-Chef und Bundesvize?

Das ist immer die gleiche Person, das ist ja das Schöne. Aber ernsthaft: Das war keine Konfrontation. Ich finde, wir hatten beide recht.

Wie das?

Olaf Scholz hat recht, wenn er sagt: Wir gehen mit zwei Partnern in eine Koalition. Es gibt einen Koalitionsvertrag, für den wir das Bestmögliche rausgeholt haben. Und wer nun will, dass die Worte Wirklichkeit werden, der sollte einen guten, kollegialen Umgang miteinander pflegen.

Aber?

Mir ist wichtig, dass unsere Leute wissen: Eine Koalition ist keine Fusion von drei Parteien. Es kommt der nächste Wahlkampf, und da stehen sich wieder unterschiedliche Programme und Weltbilder gegenüber. Außerdem gibt es in vier Jahren immer Momente, in denen jenseits des Koalitionsvertrages die Realität neu bewertet werden muss: Und dafür braucht es eine Partei, die weiß, wo sie selbst steht. Ganz grundsätzlich hat Olaf Scholz aber recht: Der Hauptgegner ist und bleibt die Union.

Kann ein Generalsekretär Kevin Kühnert denn auch noch einem Kanzler Olaf Scholz widersprechen? Würden Sie das, was Sie auf dem Bundeskongress gesagt haben, dann auch noch sagen?

Olaf Scholz ist Demokrat durch und durch und insofern hat er selbstverständlich kein Problem damit, wenn ihm Leute widersprechen. Ob er den Einwand dann teilt, steht auf einem anderen Blatt. Aber warum soll ich dem Bundeskanzler, der meiner Partei angehört, öffentliche Ratschläge geben? Wir sehen uns regelmäßig in Sitzungen, ich habe seine Telefonnummer: Das wird die Ebene sein, auf der wir uns austauschen.

Muss in der SPD nach der Wahlkampfharmonie wieder mehr um den richtigen Weg gerungen werden?

Das wird es. Andauernd und auf allen Ebenen. Nur eben intern.

Aber im Wahlkampf dann doch eher leise. Wenn überhaupt.

Wahlkampf ist eine Zeit der zugespitzten Kommunikation mit einer Hauptbotschaft, nämlich der des Programms, das man gemeinsam beschlossen hat. Das infrage zu stellen, wäre ja schizophren. Aber um jede neue Frage ringt die SPD: von den Ortsvereinen angefangen, bis hinein in die Parteispitze. Das Ringen ist aber kein Selbstzweck. Wir tun es, um Probleme bestmöglich zu lösen.

Sie haben zuletzt von inhaltlichen Leerstellen gesprochen, die es in der SPD gebe. Woran denken Sie?

Es gibt Themen, die wiederkehren, und auf die wir als Gesellschaft und Partei noch keine zufriedenstellenden Antworten haben. Wir sehen seit Jahren, dass autoritäre Herrscher die globalen Migrationsbewegungen als Druckmittel auf demokratische Staaten nutzen. Mal heißen sie Alexander Lukaschenko, mal Erdoğan. Wir haben noch keinen Weg gefunden, wie wir dem angemessen begegnen. Unsere technologische Abhängigkeit, etwa von Produktions- und Entwicklungsstandorten in Südostasien, ist ein weiteres Thema, das in einer Industrienation viel stärker debattiert gehört.

Wenn Sie es in einem Satz sagen müssten: Wofür soll die SPD künftig stehen, die Sie bald an der Spitze mitprägen wollen?

Die SPD soll der spannendste Debatten-Ort in der Gesellschaft sein, an dem man sein will, wenn große Fragen beantwortet werden müssen.

So stellt sich Norbert Röttgen die CDU auch vor.

Das ist ja auch eine sinnvolle Aufgabe für eine Partei, die die Gesellschaft formen und verändern will. Deshalb ist jeder zu beglückwünschen, der unter Parteiarbeit nicht nur versteht, den Status quo zu verwalten und Urkunden für 50 Jahre Mitgliedschaft zu verleihen.

Aber die SPD wird nicht wie eine Röttgen-CDU?

Definitiv nicht. Und um mir die CDU als spannenden Debatten-Ort vorzustellen, brauche ich auch deutlich mehr Fantasie als bei meiner Partei.

Kommt mit Ihnen als Generalsekretär und Saskia Esken als Chefin nun eigentlich der Linksrutsch?

In demokratischen Organisationen passieren durch Personalentscheidungen keine inhaltlichen Umstürze oder Erdrutsche. Dafür haben wir Gremien wie Parteitage, dafür haben wir unser Grundsatzprogramm und für das Regierungshandeln einen Koalitionsvertrag. Wohl aber bringen Personalentscheidungen Akzentverschiebungen mit sich. Die SPD hat durch eine schicksalhafte Entwicklung mit der Wahl der neuen Parteispitze und dem Zwang, sich danach zusammenzuraufen, sich selbst wieder gefunden. Das Programm, mit dem wir bei dieser Wahl angetreten sind, bildet die Spannbreite der SPD ab. Es wird dem Anspruch, linke Volkspartei zu sein, wieder sichtbar gerecht. Und da finde ich mich wie die meisten SPD-Mitglieder sehr gut wieder.

Was würde eigentlich anders sein im Koalitionsvertrag einer rot-rot-grünen Regierung als im Ampelvertrag? Also wie sähe dieser Linksrutsch aus?

Sehr hypothetische Frage, wenn man sieht, in welcher Verfassung die Linke aktuell ist. Aber wir sehen bei der Ampelkoalition, dass die Einigkeit in den gesellschaftspolitischen Fragen überragend ist. Das ist ein enormer Aufbruch, dessen Dimension viele noch nicht verstanden haben. Aber es wurde komplizierter, als wir die Verteilungsfragen verhandelt haben. Nicht mehr ganz so sehr beim Mindestlohn, denn auch FDP-Wähler schließen sich ja mit großer Mehrheit der SPD an, dass man Beschäftigte nicht so mies bezahlen sollte. Aber bei der Steuergerechtigkeit ist es eben noch anders.

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Sie sind ja ein Freund der klaren Sprache …

… das klingt, als käme jetzt eine Frage, bei der Sie eine ausweichende Antwort fürchten ...

...wir fragen uns mit Blick auf die Vermittelbarkeit von Politik: Wenn Karl Lauterbach nicht Gesundheitsminister wird, sondern jemand, den niemand kennt, werden viele das nicht nachvollziehen können.

Ich kenne in der Tat ganz viele Leute, die auch wegen ihm der SPD in diesem Jahr ihre Stimme gegeben haben.

Aber?

Kein Aber, nur eine Erklärung, was für die Entscheidung eine Rolle spielt: Natürlich dominiert die Pandemie gerade alles, aber das Gesundheitsministerium ist eben nicht nur ein Corona-Ministerium. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die Beschäftigten im Gesundheitswesen verdienten es auch schon vor Corona, dass wir die Krankenhäuser gemeinwohlorientierter finanzieren, auch um ihre Arbeitsüberlastung zu senken. Der Ampel-Koalitionsvertrag macht da einen Anfang. Auch braucht die gesamte Branche einen echten Digitalisierungsschub. Deshalb können wir die Frage, wer Gesundheitsminister oder -ministerin wird, nicht nur aus dem Moment heraus beantworten.

Fürchten Sie nicht, dass Karl Lauterbach zwangsläufig eine Art omnipräsenter "Gesundheitsminister der Herzen" wird, wenn jemand anderes den Job bekommt?

Ich fürchte rund um Karl Lauterbach gar nichts, sondern bin heilfroh, dass wir ihn in unseren Reihen haben und er vielen Menschen in der Pandemie Halt und Orientierung bietet. Ich weiß nur, dass bei all den Kabinettslisten, die seit Wochen kursieren, die Rechnung ohne den Wirt gemacht wurde. Und der Wirt ist der künftige Kanzler. Der hat sehr präzise Vorstellungen davon, wie sein Kabinett arbeiten soll. Wer glaubt, dass eine Partei die Ministerposten nur nach dem Motto vergibt "Wer ist schon im Kabinett? Wer von denen will weitermachen? Und dann nehmen wir noch drei Prominente aus der Partei!", der irrt.

Sie sind erst 32 Jahre alt, haben bislang als Juso-Chef nur eine Parteigruppierung geführt. Was macht Sie zuversichtlich, dass Sie es schaffen, als Generalsekretär die Partei in der ganzen Breite einer Volkspartei zu vertreten?

Ich muss es glücklicherweise nicht alleine tun. Es gibt auch noch andere, die prominent für die Partei sprechen und in sie hineinwirken: insbesondere die Parteivorsitzenden und Stellvertreter. Das alleine sind zusammen schon acht Leute. Dazu kommen noch der Vorstand, unsere Ministerpräsidentinnen und -präsidenten und die neue Regierungsmannschaft. Und alle gemeinsam haben wir im letzten Jahr eindrucksvoll bewiesen, was passiert, wenn man sich gegenseitig ergänzt und geschlossen auftritt.

Das beantwortet aber noch nicht die Frage nach Ihren eigenen Qualifikationen.

Ich bin erst seit 16 Jahren Mitglied meiner Partei, aber ich kenne sie aus fast allen Perspektiven. Aus der Perspektive einer großen Arbeitsgemeinschaft mit 80.000 Mitgliedern, die rein ehrenamtlich getragen wird: der Jusos. Das ist wichtig, weil eine Partei wie die SPD von ihren vielen Ehrenamtlichen getragen wird. Ich bin zudem Ortsvereinsvorsitzender und war viele Jahre in der Kommunalpolitik engagiert. Als Mitglied des Präsidiums und als Juso-Chef kenne ich auch die Parteizentrale gut. Ich bin Großstädter, kenne die Partei aber auch dort gut, wo die Fläche groß und die Mitgliederzahlen klein sind. Ich kann zeitgemäß kommunizieren, arbeite leidenschaftlich programmatisch und meine durchaus, dass ich andere motivieren und begeistern kann. Neben all dem bin ich aber vor allem auch bereit hinzuzulernen.

Die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) hatte sich zuletzt eine Generalsekretärin gewünscht, weil die bekannten Gesichter mit dem Kanzler, dem Generalsekretär und zumindest dem einen Teil der Parteispitze nun doch recht männlich seien. Können Sie das Anliegen nachvollziehen?

Ja, denn das Anliegen der ASF – Parität auf allen Ebenen – ist auch das Anliegen der gesamten SPD. Wir arbeiten seit über 30 Jahren mit einer Geschlechterquote. Frauen und Männer müssen bei uns immer zu wenigstens 40 Prozent vertreten sein. Wir wollen auch das neue SPD-Präsidium paritätisch besetzt sehen, so wie es übrigens schon jetzt der Fall ist. Und so wie Olaf Scholz ein paritätisches Kabinett anführen wird. Aber Parität kann man nicht alleine machen. Es ist eine Frage des Teams und nicht der einzelnen Posten, auf denen wir uns jeweils für den oder die Beste entscheiden müssen.

Also reicht es, wenn um die prominentesten Männerköpfe herum viele Frauen positioniert sind?

Nein! Die Frauen gehören bei uns zu den prominentesten Köpfen. Mit Saskia Esken haben wir in der Doppelspitze eine Parteivorsitzende, die höchste Vertreterin der SPD. Das zu übersehen ist eine Geringschätzung für die Frau, die gleichberechtigte Chefin der SPD ist.

Gibt es Generalsekretärinnen oder Generalsekretäre, die Sie sich zum Vorbild nehmen?

Das ist bei mir eher ein Best-of: Ich schaue ja täglich vielen anderen beim Politikmachen zu und verinnerliche das, was ich für geeignet halte. Lars Klingbeil etwa hat einen modernen Stil und Sound in dieses Amt gebracht, der für die politische Debatte in hitzigen Zeiten sehr gut war. In punkto Fairness und Verbindlichkeit in der Debatte sind wir uns sehr ähnlich. Ich werde aber auch Sachen anders machen als er. Ich bin mit meiner Berliner Schnauze sicherlich etwas emotionaler im Auftritt, als man das als Niedersachse aus der Lüneburger Heide nun mal so ist, aber das ist ja nicht schlimm.

Sie wären der neunte Generalsekretär in gut 20 Jahren.

Ich war damals zwölf Jahre alt und habe daher leider nicht von Beginn an mitzählen können.

Klingt eher nach einem Schleudersitz, oder?

Lars Klingbeil hat vier Jahre durchgehalten und schleudert sich jetzt mit einer gewonnenen Bundestagswahl auf den Parteivorsitz.

Andrea Nahles hat noch ein paar Monate länger durchgehalten.

Zwei prägende Figuren der jüngeren Sozialdemokratie. Und Sie sehen: Man kann also auch wiedergewählt werden in diesem Amt. Es kommen jetzt allerdings auch Parteifreunde zu mir, die dann augenzwinkernd sagen: Generalsekretär sollte man im Interesse des eigenen Wohlbefindens nicht länger als vier Jahre sein. Ich bin gespannt.

Wissen Sie denn schon, was Sie dann mit 36 machen?

Mein Job wird künftig sein, dafür zu sorgen, dass ich mit 36 mit meiner Partei einen weiteren Wahlsieg feiern kann und Olaf Scholz Kanzler bleibt. Um nichts weniger als das geht es. Auf dem Weg dahin muss ich nun zügig in das neue Amt hineinfinden, wenn die Partei das möchte. Und dann sprechen wir in einem halben Jahr noch mal. Dann kann ich Ihnen sagen, ob ich das mit dem Wohlbefinden genauso sehe. Aber personelle Kontinuität ist nichts Schlimmes in einer Partei. Die SPD hatte ja nicht nur beim Generalsekretär in den vergangenen Jahren eher zu viele Wechsel.

Die SPD leidet oft selbst an sich, vor allem, wenn sie regiert. Haben Sie Sorge, dass das jetzt noch schlimmer wird, wo sie wieder den Kanzler stellt?

Ich bin 2005 in die Partei eingetreten und kenne sie nur als Juniorpartner in großen Koalitionen oder in der Opposition. Gelegentlich auch mit all dem Grummeln und der Unzufriedenheit, mit dem Rechtfertigungszwang für eine erhöhte Mehrwertsteuer und ein höheres Renteneintrittsalter. In diesen Wochen aber erlebe ich eine ganz andere SPD: Da gibt es eine glucksende Fröhlichkeit. Für mich ist es eine überragende Motivation, diesen Stolz unserer 400.000 Mitglieder auf ihre Partei zu wahren, nachdem sie so viele Jahre verbale Prügel einstecken mussten.

Also hat die SPD derzeit schon ganz viel von der "Fröhlichkeit im Herzen", die Angela Merkel den Deutschen empfohlen hat?

Definitiv. Und dass diese Fröhlichkeit nicht in Naivität oder gar Selbstzufriedenheit umschlägt, sondern wir hungrig bleiben, dafür will ich als Generalsekretär arbeiten.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Kevin Kühnert in Berlin unter 2G-Bedingungen
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