Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Spiegels Abgang Selbstentblößung mit Folgen
Anne Spiegels Abgang hinterlässt einen seltsamen Beigeschmack. Mit ihrer ungewöhnlichen Offenheit hat die Politikerin ihrer eigenen Agenda einen Bärendienst erwiesen.
Der Rücktritt von Anne Spiegel ist tragisch. Als Familienministerin setzte sie sich glaubwürdig für Themen wie Gleichstellung, bessere Kinderbetreuung und mehr Elterngeld ein. Dass sie nun ihr Amt aufgeben musste, mutmaßlich auch wegen des fehlenden Rückhalts aus den eigenen Reihen – weniger freundlich könnte man auch sagen: auf Druck ihrer eigenen Partei – liegt jedoch nicht an einer Ungleichbehandlung von Männern und Frauen im politischen Betrieb, wie es einige Kommentatoren nun suggerieren. Spiegel ist auch nicht das Opfer einer Medienkampagne geworden, wie verschiedentlich behauptet wird.
Sie ist schlichtweg über eigene Fehler gestolpert, hat mutmaßlich die Unwahrheit gesagt, und kommunikative Fehler gemacht. Ihr seltsam gehemmter, um die richtigen Worte ringender Auftritt am Sonntagabend war eine Selbstentblößung, wie es sie in der deutschen Politik wohl noch nicht gegeben hat: Ein an Exhibitionismus grenzender Canossagang vor laufenden Kameras und eine Entschuldigung, der es trotz oder gerade wegen ihrer entwaffnenden Offenheit an Überzeugungskraft fehlte.
Ein Rückschlag für die Gleichberechtigung
Es war auch ein Rückschlag für die Gleichberechtigung. Die Erkrankung ihres Mannes anzuführen, um ihre Versäumnisse im Amt zu rechtfertigen, wirkte wie eine Instrumentalisierung ihrer Privatsphäre, um sich weiterhin in ebenjenem Amt zu halten. Das sich dadurch einstellende Gefühl der Ungebührlichkeit und des Verstoßes gegen die politischen Gepflogenheiten (die Würde des Amtes nicht mit Persönlichem zu diskreditieren) haftete nach diesem Auftritt an ihr und schadete ihrer Reputation noch mehr als die politischen Fehltritte. Die hätte sie wohl überstehen können.
Mit ihrem unglücklichen Abgang schadete Spiegel auch ihrer eigenen Agenda: als Familienministerin glaubwürdig für die Gleichstellung von Frauen und Männern und den Schutz der Familie einzustehen. Indem sie mit Verweis auf die Belastung ihrer Familie sowie die schwere Erkrankung ihres Mannes sensible Informationen aus dem Privatleben öffentlich machte, handelte sie weder fürsorglich noch fortschrittlich. Es wirkte vielmehr wie eine verzweifelte Ultima ratio und war Ausdruck eines emotionalen Vabanque ohne Rücksicht auf (private) Verluste. Das ist die tragische Dimension daran. Dass sie das preisgab, was sie vermeintlich zu schützen beabsichtigte.
Rücktritt war nicht unvermeidlich
Wie sich ähnlich schwierige Situationen im politischen Hochdruckbetrieb mit Rücksicht auf den Partner und Familie lösen lassen, demonstrierte etwa Frank-Walter Steinmeier, der 2012 auf die Kanzlerkandidatur verzichtete, um seiner schwer erkrankten Frau eine Niere zu spenden. Oder Franz Müntefering. Der SPD-Politiker trat 2007 als Vizekanzler und Bundesarbeitsminister zurück, um seine krebskranke Frau bis zu deren Tod zu pflegen.
Dennoch ist der Rücktritt von Anne Spiegel nicht unvermeidlich gewesen. Etliche Männer im Haifischbecken Politik haben bewiesen, dass ihnen der unbedingte Wille zum Amt und zur Macht wichtiger ist als die konsequente Verantwortungsübernahme. Fälle wie der des ehemaligen CSU-Verkehrsministers Andreas Scheuer zeigen, dass ein Minister auch schwerste Versäumnisse einfach aussitzen kann, solange er den Rückhalt seiner Partei und ihrer Potentaten genießt. Insofern war Spiegels Rücktritt das Ergebnis der politischen Kultur innerhalb der grünen Partei, die mit den Dingen offenbar anders umzugehen versucht als andere Parteien.
So überraschte Wirtschaftsminister Robert Habeck zuletzt mit erstaunlicher Offenheit, als er den vermeintlichen Gas-Deal mit Katar als das bezeichnete, was er war: ein notwendiges Übel. Erinnern wir uns auch daran, dass Cem Özdemir weiland wegen ein paar läppischer Bonusmeilen, die er für private Zwecke eingesetzt hatte, seinen Hut als innenpolitischer Sprecher der Grünen nahm. Geschadet hat es ihm nicht. Im Gegenteil, Özdemir ist im heutigen Kabinett Bundeslandwirtschaftsminister. So kann man mit politischen Malaisen auch umgehen: direkt und konsequent.
Insofern ist Spiegels Demission auch eine Chance zum Neuanfang. Für ihre Partei und vor allem für sie selbst und ihre Familie.