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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutlich erhöhte Radioaktivität Litauen stoppt strahlende Baustoffe für Deutschland
Es ist ein Fall, der Rätsel aufgibt: An der Grenze zu Weißrussland hat der litauische Zoll eine Lieferung nach Deutschland gestoppt: Bauschutt mit deutlich erhöhter Strahlung.
Samstagnachmittag, Šalčininkai im Südwesten Litauens, ein Grenzort: Im Norden liegt Litauen, im Süden Weißrussland, die kleine Grenzstation mit ihren Wellblechhäusern ist von Birken und Fichten umgeben. Hier grenzt die EU an Weißrussland. Als ein Lkw die Grenze passiert, schlägt ein Messgerät Alarm.
Es hat ungewöhnliche radioaktive Strahlung registriert.
Quelle: der Lkw mit russischem Kennzeichen. Die Grenzschutzbeamten kontrollieren Fahrer und Fahrzeug. Am Steuer sitzt ein 24-jähriger Weißrusse. Seine Papiere: einwandfrei. Seine Ladung: gebrauchte Ziegel und Steine aus Russland. Sein Ziel: Deutschland.
Erhöhte Strahlung von Radium-226
In Litauen hat der Vorfall einige Aufmerksamkeit erregt und in Kommentarforen vor allem eine Frage aufgeworfen: Wieso importiert Deutschland gebrauchte Baumaterialien aus Russland? Für wen war das Material bestimmt? Und sind solche Transporte häufiger unterwegs?
Die Beamten an der Grenze ziehen an diesem Tag Experten des Strahlenschutzzentrums hinzu. Messungen per Handmessgerät zeigen erhöhte Werte von Radium-226. Davon geht eine sogenannte Gamma-Ortsdosisleistung von 1,5 Mikrosievert pro Stunde aus. Sieben Mal so hoch wie die obere Grenze der natürlich vorkommenden Strahlung. Der Lkw muss umdrehen und zurück nach Weißrussland fahren.
An dieser Stelle endet die Auskunftsbereitschaft der litauischen Stellen. Die Pressestelle des Staatsgrenzschutzamts mauert. Aus welcher Branche sind Lieferant und Kunde? Keine Angaben aus Vilnius. Wohin genau sollte die strahlende Ladung gehen? Keine Angaben aus Vilnius. Wurden deutsche Behörden eingeschaltet? Keine Angaben aus Vilnius.
Keine gesetzliche Regelung zu strahlenden Baustoffen
Anfrage bei den deutschen Behörden: Was wissen sie über den Vorfall? Die Generalzolldirektion erklärt auf Anfrage von t-online.de, den Fall aus Litauen prüfen zu wollen. Eine Antwort steht noch aus.
Anfrage beim Bundesamt für Strahlenschutz (BfS): Wie gefährlich war die Ladung des Lkw? Hätte man mit dem Material ein Haus bauen dürfen?
Bislang gebe es nur EU-Empfehlungen für den Umgang mit dieser Strahlung, erklärt ein Sprecher. "Derzeit gibt es keine gesetzliche Grundlage für den Radionuklidgehalt von Baustoffen." Erst zum Jahreswechsel soll es mit dem Strahlenschutzgesetz eine in Deutschland verbindliche gesetzliche Regelung geben. Die Strahlenbelastung durch Baustoffe soll dann eine effektive Dosis auf den Organismus von 1 Millisievert pro Jahr nicht überschreiten.
Material nur für Straßenbau nutzbar
"Dieser Wert würde bei dem in Litauen gestoppten Baumaterial bereits bei einem Aufenthalt von etwa 1.100 Stunden erreicht", erklärt ein Sprecher. Das sind weniger als zwei Monate, weil von einer üblichen Aufenthaltszeit in Gebäuden von 7.000 Stunden pro Jahr ausgegangen wird.
Das heißt: Mit dem Baumaterial aus Russland dürfte wegen der Gesundheitsrisiken niemand ein Wohnhaus oder ein Bürogebäude bauen. Für Brückenpfeiler oder im Straßenunterbau könnte Material eingesetzt werden.
Natürliche Strahlung in vielen Baumaterialien
Auch bei vielen Baustoffen ist eine schwache Strahlung unvermeidbar, da Beton, Ziegel oder Fliesen aus natürlichen Ausgangsmaterialien wie Kies, Lehm und Ton bestehen. Dort laufen Zerfallsreihen ab, bei denen auch Radium-226 entsteht. Der in Litauen gemessene hohe Wert wundert die deutschen Experten aber, sie wollten auch einen Fehler beim Messen nicht ausschließen.
Dem Bundesamt für Strahlenschutz sind keine Fälle aus Deutschland bekannt, in denen stärker radioaktiv belastetes Material beim Bau von Gebäuden genutzt wurde. Das BfS ist aber auch keine Vollzugsbehörde und würde in solchen Fällen nicht direkt eingeschaltet.
In früheren Messungen an Ziegeln und Fliesen hat das BfS überhöhte Radionuklidgehalte gemessen, wenn dafür bestimmte Tonarten genutzt wurden – "aber nicht bei aktuell in Deutschland hergestellten oder gehandelten Baustoffen". Durch die Strahlenschutzverordnung dürften seit 2001 Baustoffen keine Industrieschlacken mehr untergemischt werden, weil darin Radionuklide angereichert sein könnten. Auch bei entsprechenden Importen würden diese Vorgaben zur Einschränkung von besonders strahlenden Inhaltsstoffen gelten, so das BfS.
Händler müssen ab 2019 Wert deklarieren
Gesetzliche Beschränkungen für Natursteine existierten aber bisher nicht, für Baustoffe ebenso nicht. Ändern wird sich das mit Inkrafttreten des Strahlenschutzgesetzes. Dann ist der Importeur für die Einhaltung der Vorgaben und korrekte Deklaration verantwortlich: Ab dem 1. Januar 2019 muss bei allen Baumaterialien zur Verwendung in Innenräumen der Radionuklidgehalt deklariert werden. Angegeben wird ein Index. Der muss unter 1 liegen, damit die Jahresdosis von 1 Millisievert nicht erreicht wird.
Unbeantwortet bleibt die Frage, warum jemand Ziegel und Steine aus Russland nach Deutschland importieren sollte. "Baustoffe gibt es in Deutschland reichlich und viel günstiger als bei einem Transport aus Russland", sagt eine Sprecherin des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie zu t-online.de. "Ich sehe keine Veranlassung für einen solchen Transport."