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Zum journalistischen Leitbild von t-online.SPD-Streit über Putin-Freund Ein Sprengsatz namens Schröder
Der neue SPD-General Matthias Miersch hat eine Debatte über Gerhard Schröder entfacht. Auf den ersten Blick scheint das der SPD zu schaden. Auf den zweiten auch. Was steckt dahinter?
Manchmal muss man etwas zweimal hören, bis einem dämmert, was da gesagt wurde. Als der neue SPD-Generalsekretär Matthias Miersch bei seiner Vorstellung Anfang Oktober für eine "differenzierte Sicht" auf Gerhard Schröder plädierte und den Altkanzler vor versammelter Hauptstadtpresse für seine Lebensleistung lobte, war das durchaus eine Nachricht wert. Doch in dem Politbeben, das der plötzliche Rücktritt von Kevin Kühnert ausgelöst hatte, ging sie ein wenig unter.
Ein Wirbelsturm der Entrüstung fegte erst Wochen später durch das politische Berlin. Im Interview mit dem "stern" vor wenigen Tagen bekräftigte Miersch seine Aussagen und antwortete auf die Frage, ob Schröder weiter Teil der SPD sei: "Ja. Sonst hätte Gerhard Schröder aus der Partei ausgeschlossen werden müssen, das haben die Schiedsgerichte aber nicht getan."
Es hagelte massive Kritik aus anderen Parteien, auch aus der Ampel. Mierschs Fehler war, dass er juristisch argumentierte, aber politische Schlussfolgerungen daraus zog: Weil die beiden Parteiauschlussverfahren gegen Schröder scheiterten, soll er politisch neu bewertet werden? Auch für zahlreiche Sozialdemokraten klang das nicht überzeugend. Doch bisher traut sich kaum einer, Miersch offen zu kritisieren. Man wolle den neuen General nicht beschädigen, heißt es.
Angesichts der Empörungswelle stellen sich gleich mehrere Fragen: Was bezweckt Miersch damit, das Image des bekennenden Putinfreunds Gerhard Schröder aufzupolieren, der sich gerade auch mit dem Autokraten Viktor Orbán traf? Warum gerade jetzt? Und: Waren die SPD-Chefs eingeweiht?
Eigentlich war Schröder politisch erledigt
Die plötzliche Wende überrascht vor allem auch deswegen, weil das Kapitel Schröder in der SPD eigentlich beendet war. Zwar konnte man Schröder nicht hinauswerfen, aber politisch war er in der SPD erledigt. Auch die Parteispitze hielt sich vom Altkanzler fern. Dafür stand gerade auch Mierschs Vorgänger Kevin Kühnert, der dessen Entwicklung zum Gaslobbyisten "traurig" nannte.
Die letzte Verrenkung, die der SPD-Spitze nicht erspart blieb, war die Ehrung Schröders anlässlich seiner 60-jährigen Parteimitgliedschaft im Oktober 2023, die ihm satzungsgemäß zustand und zähneknirschend gewährt wurde. Das Grußwort hielt damals der Chef des zuständigen SPD-Bezirks Hannover: Matthias Miersch.
"Wir sind komplett führungslos"
Klar ist: In der SPD rufen Mierschs Äußerungen Unruhe hervor, und das in einer ohnehin hochbrisanten Phase. Im Osten lauern wegen der Koalitionsgespräche mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) politische und moralische Tretminen; das Sondierungspapier in Brandenburg zwischen SPD und BSW düpiert die Ukraine-Politik des Kanzlers. Zugleich bröckelt in der Partei die Unterstützung für die Ukraine, während Putin gerade den Donbass sturmreif schießt. Das alles wirft die Frage auf, wo die SPD beim Thema Krieg und Frieden eigentlich steht – und ob sie insgeheim die Zeitenwende abwickelt.
Die befürchtete Teil-Rehabilitierung Schröders durch den SPD-Spitzenmann Miersch verkompliziert die Lage weiter. Das aktuelle Stimmengewirr in der SPD fasst ein Genosse hinter vorgehaltener Hand mit drastischen Worten zusammen: "Wir sind komplett führungslos."
Schröders "Lebensleistung"
Der rhetorische Schröder-Schwenk an der Parteispitze hat auch zahlreiche Sozialdemokraten überrascht. Warum kam es dazu? Dazu kursieren unterschiedliche Erklärungsansätze, von denen allerdings keine allein wirklich überzeugend ist.
So argumentiert das Willy-Brandt-Haus vor allem mit örtlichen Zuständigkeiten: Als Chef des SPD-Bezirks Hannover, wo Gerhard Schröders Ortsverband beheimatet ist, trage Miersch Verantwortung für alle Mitglieder. In dieser Rolle habe Miersch den Altkanzler beim erwähnten 60. Jubiläum vergangenen Oktober gewürdigt, und so sei auch Mierschs Besuch bei Schröders 80. Geburtstag im April zu verstehen.
Bei Schröders 60. Jubiläum würdigte Miersch Schröders Lebenswerk mit den Worten: "Gerhard hat für die SPD und für die Bundesrepublik Deutschland viel geleistet." Miersch verurteile weiterhin Schröders Russlandpositionen aufs Schärfste, aber anerkenne zugleich dessen Errungenschaften in anderen Bereichen, heißt es im Willy-Brandt-Haus.
Fankurve Gerhard Schröder
Das ist die eine Lesart. Die andere ist, dass Schröder bei Teilen der SPD-Basis weiterhin seine Fankurve hat. Putin hin oder her: Schröder gilt als kantiger Politiker alten Schlags, eine Art Anti-Scholz, der seine Politik mit Schmackes vertrat, auf den Tisch haute, wenn der Koalitionspartner muckte, und sich nach getaner sozialdemokratischer Arbeit die wohlverdiente Zigarre ansteckte.
Schröder wieder näher an die Partei zu rücken, könnte etwas vom alten Glanz der Sozialdemokratie zurückbringen. Die Hoffnung ist, so wenigstens einen Teil der Wähler zurückzuholen, die die SPD bei der Europawahl im Juni ans Lager der Nichtwähler – rund zwei Millionen – verloren hat. Doch ob sich diese Wähler ausgerechnet durch den Kremllobbyisten Schröder elektrisieren lassen und nicht etwa durch mehr sozialdemokratische Regierungspolitik? Fraglich.
Ein Keil im Wagenknecht-Lager
Eine andere Erklärung könnte daher lauten: Miersch will einen Keil ins Wagenknecht-Lager treiben. Denn die SPD hat bei den letzten Wahlen nicht nur Stimmen an die Nichtwähler verloren, sondern auch ans BSW. Von der Sehnsucht vieler Deutscher, auch vieler Sozialdemokraten, nach einem Kriegsende in der Ukraine profitiert derzeit vor allem die Wagenknecht-Partei. Die SPD hatte schon bei den Ostwahlen versucht, einen Teil der BSW-Wähler zurückzugewinnen, und gab Forderungen nach Verhandlungen mehr Raum. Den Wunsch nach Frieden dürfe man nicht den Populisten überlassen, hieß es.
Gebracht hat es wenig, vor allem weil der Friedenswahlkampf im Widerspruch zur Politik der SPD-geführten Bundesregierung steht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, mögen sich manche denken. Nicht zufällig erhält Miersch gerade von den SPD-Politikern Unterstützung, die seit Monaten für weniger Waffen und mehr Diplomatie werben.
Es gibt in der SPD, vor allem an der Basis, ein großes Bedürfnis, die Waffen zum Schweigen zu bringen und das Verhältnis zu Russland zu normalisieren. Schröder verkörpert aus Sicht mancher Genossen genau diesen Weg – und verfügt zudem über die wohl besten Drähte zu Kremlchef Putin. Soll Schröder gar als künftiger Vermittler für einen Waffenstillstand aufgebaut werden?
Ein Sprengsatz namens Schröder
Von einem Sprecher Mierschs wird das scharf verneint. Man wolle Gerhard Schröder "nicht rehabilitieren", er werde auch nicht als künftiger Ukraine-Vermittler aufgebaut. "Es gibt keine größere Strategie hinter den Aussagen von Matthias Miersch über Schröder", heißt es im Willy-Brandt-Haus.
Aber was dann?
Es gibt eine vierte Theorie: die "naive Variante", wie es ein Bundestagsabgeordneter nennt. Miersch hätte lediglich die Sprengwirkung seiner Aussagen unterschätzt. Das kommt immer wieder vor, auch bei Spitzenpolitikern. Sollte das der Fall sein, müsse sich die Parteispitze jedoch bald etwas einfallen lassen, wie sie die Aussagen wieder einfängt oder erklärt. Denn solange das nicht geschieht, wird die Schröder-Debatte die SPD bis zur Bundestagswahl begleiten. Es sei denn, genau das ist gewollt.
- matthias-miersch.de: "Zur heutigen Ehrung von Gerhard Schröder"
- Eigene Recherchen