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Zum journalistischen Leitbild von t-online.EU-Bürokratie FDP-Ministerien übererfüllen Regeln aus Brüssel
Eigentlich sind die Liberalen gegen zu viel Brüssel-Bürokratie. Jetzt zeigt sich: Mehrere von FDP-Politikern geführte Ministerien haben EU-Richtlinien in Deutschland noch verschärft.
Es war eines der bestimmenden Themen im Europa-Wahlkampf, besonders für die Liberalen: Die Brüsseler Bürokratie löst hierzulande bei Unternehmern immer mehr Frust und Ärger aus und müsse im Sinne der Wirtschaft deshalb zurückgedrängt werden. Dabei richtete sich die FDP auch gegen die Übererfüllung von EU-Rechtsakten im nationalen Recht, das sogenannte "Gold Plating".
Jetzt aber stellt sich heraus: Gerade die FDP-geführten Ministerien haben in der laufenden Legislaturperiode eine ganze Reihe von Brüssel-Gesetzen in Deutschland verschärft. Das zeigt eine Antwort des Bundesjustizministeriums auf eine AfD-Anfrage im Bundestag, die t-online vorab vorliegt.
Demnach hat die Ampelregierung bis zum Stichtag 2. Juli insgesamt neun EU-Richtlinien über das notwendige Maß hinaus erfüllt. Mehr als die Hälfte dieser Fälle gehen dabei auf Anpassungen in Ministerien zurück, die von FDP-Politikern geleitet werden:
"FDP zeigt sich als Bürokratiestreber"
In den Häusern von Finanzminister Christian Lindner und Verkehrsminister Volker Wissing fallen jeweils eine EU-Richtlinie unter die "Gold Plating"-Definition. Das Justizministerium unter Marco Buschmann hat insgesamt drei Richtlinien aus Brüssel übererfüllt. Die übrigen vier "Gold Plating"-Fälle gehen auf die von den Grünen geführten Ressorts von Umweltministerin Steffi Lemke (eine Richtlinie) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (drei Richtlinien) zurück.
Der AfD-Abgeordnete Leif-Erik Holm, der sich bei seiner Anfrage eine sehr ähnliche der FDP-Fraktion aus der vorangegangenen Legislatur zum Vorbild nahm, moniert, dass die Ampel Bürokratie eher auf- als abbaue. "Vor allem die FDP zeigt sich bei der Übererfüllung von EU-Verordnungen als wahrer Bürokratiestreber", sagte er t-online. "Wie dieser Bürokratieeifer der Ampel mit dem Versprechen im Koalitionsvertrag zusammenpassen soll, die Umsetzung von EU-Recht 'bürokratiearm' zu gestalten, ist mir schleierhaft."
Das Justizministerium erklärt auf t-online-Anfrage, man sei "immer bestrebt", EU-Richtlinien eins zu eins und bürokratiearm in nationales Recht umzusetzen. "Dennoch kann eine Abweichung in Einzelfällen sinnvoll und notwendig sein", sagte ein Sprecher. Unter anderem sei das der Fall, wenn man nicht "hinter eine bereits bestehende nationale Regelung zurückfallen möchte", sich durch die EU-Regeln "Wertungswidersprüche" ergäben. Oder wenn der Koalitionsvertrag etwas anderes vorsieht.
Besserer Schutz für Hinweisgeber
Beispielhaft dafür steht die EU-Richtlinie 2019/1937/EU, die den Schutz von Hinweisgebern ("Whistleblowern") regelt. Eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Brüsseler Vorgaben hätte zum einen dem Koalitionsvertrag widersprochen. Zum anderen hätte es "erhebliche Unsicherheiten" für die Hinweisgeber gegeben, heißt es im Justizministerium.
Hätte etwa eine Pflegekraft einen kleinen Verstoß ihrer Firma gegen den Datenschutz gemeldet, wäre sie umfassend geschützt gewesen – hätte sie aber Misshandlungen von Patienten gemeldet, wären die Angaben des Whistleblowers nicht vertraulich behandelt und damit geschützt worden. Darum hat das Justizministerium das Gesetz angepasst.
Auch das Finanzministerium argumentiert ähnlich hinsichtlich der Richtlinie 2016/1164/EU, mit der Steuervermeidung in den EU-Staaten unterbunden werden soll. Die Anpassung der Richtlinie im nationalen Recht gehe demnach darauf zurück, dass die deutsche Gesetzeslage schon zuvor schärfer gewesen war, als von der EU vorgesehen, und sich deshalb teilweise systematisch gebotene Anpassungen ergaben. Aber, so ein Ministeriumssprecher: "Eine Verschärfung der Anti-Steuervermeidungs-Richtlinie als solche war damit nicht verbunden."
Verschärfungen können auch Vorteile bringen
Die EU mitbestimmt durch ihre Richtlinien maßgeblich die Gesetzgebung in den EU-Mitgliedsstaaten. Allein im Jahr 2022 entstanden laut der Stiftung Familienunternehmen in Brüssel mehr als 2.000 neue Regeln. Die Zahl der in Deutschland über die Vorgaben hinaus angepassten Richtlinien wirkt dagegen fast verschwindend gering.
Und Tatsache ist auch: "Gold Plating" ist für den einzelnen Bürger nicht immer von Nachteil. So ist etwa auch die EU-Richtlinie 2020/1828/EU, die die neue Verbandsklage ermöglicht, in Deutschland anders geregelt als von Brüssel vorgesehen. Der Grund: Auch künftig sollen wie gehabt eine große Gruppe von Verbrauchern und auch kleine Firmen mit weniger als zehn Beschäftigten ihre Ansprüche gegen Unternehmen geltend machen können – wie zum Beispiel früher per Musterfeststellungsklage beim VW-Dieselskandal.
- Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der AfD-Fraktion
- Antworten auf Anfragen an die betroffenen Bundesministerien