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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Folgen des Lambrecht-Rücktritts "Die 100 Milliarden können nur ein Anfang sein"
Was muss der nächste Verteidigungsminister ändern? Das wissen am besten die Abgeordneten, die lange in der Bundeswehr gedient haben. t-online hat sie gefragt.
Christine Lambrecht ist als Verteidigungsministerin zurückgetreten, ihr Nachfolger wird voraussichtlich am Dienstag bekannt gegeben. Ihn oder sie erwarten große Aufgaben, denn die Probleme im Ressort sind groß: zu viel Bürokratie, zu wenig Personal, fehlende und mangelhafte Ausrüstung sind nur einige davon.
Was muss als Erstes passieren, wie kann die Truppe wieder fit gemacht werden? t-online hat sich bei den echten Fachmännern in der Politik umgehört: Jenen, die lange in der Bundeswehr gedient haben.
Arlt (SPD): Neue Rüstungsverträge haben "allerhöchste Priorität"
Johannes Arlt ist 38 Jahre alt und sitzt für die SPD nicht nur im Verteidigungsausschuss. Er ist auch selbst Luftwaffenoffizier und hat mehrere Auslandseinsätze absolviert. Die wichtigste Aufgabe folgt für ihn aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Und sie lautet: Die Rüstungsindustrie muss wieder schneller mehr produzieren können.
"Die Bundeswehr braucht langfristige Abnahmeverträge mit der Industrie", sagt Arlt t-online. "Dann kann dort Personal eingestellt und neue Produktionslinien können eröffnet werden." Nur so könne die Produktion schneller und zuverlässiger aufgestellt und mittelfristig stabilisiert werden. "Das muss in den nächsten Wochen oder Monaten passieren und sollte allerhöchste Priorität haben."
Damit die Bundeswehr ihre wachsenden Aufgaben erfüllen kann, fordert Arlt aber auch strukturelle Veränderungen. "Die Bürokratie in der Bundeswehr muss dringend reduziert werden", sagt er. "Wir brauchen weniger Vorschriften und weniger Verwaltungsebenen, damit es schnellere Entscheidungen gibt." Die Organisation sei ab 2011 unter den Ministern Karl-Theodor zu Guttenberg und Thomas de Maizière stark zentralisiert worden. "Das sollten wir zurückdrehen", so Arlt. Wo es sinnvoll sei, müsse wieder mehr von Verantwortlichen auf niedrigeren Ebenen entschieden werden können.
Damit das funktioniert, braucht es aber noch etwas anderes: genügend Personal. Es müsse überlegt werden, wie die vielen offenen Stellen besetzt werden könnten, sagt Arlt. "Wir müssen auch Karrieremodelle verändern und eine Dienstpflicht zumindest diskutieren." Außerdem ist die Bundeswehr aus seiner Sicht "zu kopflastig". Es gebe mittlerweile mehr Stellen für Oberste als im Jahr 2000, als die Bundeswehr noch fast doppelt so groß gewesen sei.
Eine "ganz andere Managementenergie” könne zum Beispiel entstehen, wenn Offiziere früher zu Generälen aufsteigen könnten und dann auch früher in Rente gingen, findet Arlt. "Ein amerikanischer Vier-Sterne-General ist im Schnitt zehn Jahre jünger als unsere Generäle in Deutschland."
Kiesewetter (CDU): "Die 100 Milliarden können nur ein Anfang sein"
Roderich Kiesewetter unterstützt die Union im Bundestag mit Fachwissen aus der Truppe. Denn gleich nach seinem Abitur trat er der Bundeswehr bei, studierte dort, durchlief den Generalstabslehrgang und diente auch im Ausland. 2009 verabschiedete sich der heute 59-Jährige von der Truppe im Range eines Obersts, um in die Politik zu gehen.
Die größte Aufgabe für den Nachfolger von Christine Lambrecht sieht Kiesewetter darin, "die Zeitenwende in ein konkretes politisches Programm für die Bundeswehr zu übersetzen". Nicht nur die bisher bereitgestellten 100 Milliarden Euro Sondervermögen müssten strategisch vorausschauend eingesetzt werden, sagte er t-online. Er sieht klar den Bedarf nach mehr Geld. Der neue Verteidigungsminister müsse "auch notwendige finanzielle Nachforderungen stellen und gegenüber anderen Ressorts durchsetzen". Denn: "Die 100 Milliarden können nur ein Anfang sein."
Er fordert außerdem eine "strategisch vorausschauende Führung" im Verteidigungsministerium, die auch "disruptiv" denke. Das Ziel derzeit müsse die vollständige Befreiung der Ukraine sein. Dafür sei es auch nötig anzuerkennen, dass dort die Verteidigung Deutschlands stattfinde. "Insofern gilt es, aktuell eine sogenannte Kriegswirtschaft anzustreben und für einen gewissen Zeitraum gängige und unnötige Planungs- und Bestellprozesse zu verschlanken."
Lucassen (AfD) fordert neue Leitungsebene im Ministerium
AfD-Politiker Rüdiger Lucassen war 34 Jahre lang bei der Bundeswehr. Er wurde als Hubschrauberpilot ausgebildet, leitete eine Fliegerstaffel und arbeitete außerdem als Referent im Verteidigungsministerium. Heute ist der 71-jährige Oberst a. D. verteidigungspolitischer Sprecher der AfD im Bundestag.
Als ersten Schritt fordert er im Gespräch mit t-online von Lambrechts Nachfolger einen personellen Neuanfang im Ressort: "Lambrechts Nachfolger kommt um einen personellen Umbau der Leitungsebene des Ministeriums nicht umhin." Auch der Generalinspekteur und einige Präsidentinnen der wichtigen Ämter für Personal und Rüstung seien "verschlissen" und hätten nicht liefern können. Diese Posten müssten neu besetzt werden.
Zweitens müsse der Lambrecht-Nachfolger "eine rüstungspolitische Großoffensive in Gang setzen", so Lucassen weiter. "Das heißt im Klartext: kaufen, was die deutsche Wehrindustrie liefern kann."
Drittens müsse Deutschland wieder zur Wehrpflicht zurückkehren, fordert Lucassen. In Europa tobe ein Krieg, Deutschland aber finde keine Soldaten mehr. “Die Wehrpflicht muss jetzt zurückgeholt werden. Bei der nächsten Eskalationsstufe ist es vermutlich zu spät."
Grüne: "Wir müssen uns ehrlich machen"
Norman Böhm arbeitet im Amt für Heeresentwicklung der Bundeswehr in Köln. Er ist 39 Jahre alt, Grünen-Mitglied und seit Kurzem Vorsitzender von BundeswehrGrün. Seit 2021 engagieren sich in dem Verein inzwischen 70 Grüne, damit sich Armee und Partei besser verstehen. Böhm mahnt vor allem eins an: Ehrlichkeit mit sich selbst und der Truppe.
"Wir müssen uns ehrlich machen, wenn es um die Aufgaben der Bundeswehr geht”, sagt Böhm t-online. Die internationalen Verpflichtungen seien groß. "Aber in den vergangenen Jahrzehnten sind wir nicht bereit gewesen, das auch vollumfänglich zu finanzieren." Anspruch und Wirklichkeit klafften stark auseinander, das müsse stärker in Einklang gebracht werden. "Wenn das Heer der Nato drei Divisionen stellen soll, müssen die auch einsatzfähig sein", fordert er. "Sonst geben wir Versprechen ab in der Hoffnung, sie nie zu 100 Prozent erfüllen zu müssen."
Es reiche dafür auch nicht aus, nur mehr Material zu beschaffen, sagt Böhm. "Die Bundeswehr braucht auch das Personal, um das Ganze auch nachhaltig betreiben zu können." Wie SPD-Politiker Arlt fordert Böhm dafür eine Strategie, die unbesetzten Stellen zu füllen. "Und es braucht eine Entscheidung darüber, wie mit den steigenden Betriebskosten umgegangen wird." Die Kosten für Personal und Material werden ihm zufolge schon in wenigen Jahren die im Haushalt vorgesehenen Mittel übersteigen. "Dann gibt es keinen Spielraum für Investitionen mehr."
- Gespräche mit und Anfragen an Johannes Arlt, Roderich Kiesewetter, Rüdiger Lucassen, Norman Böhm