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Alle reden über Andrij Melnyk – aber niemand über diesen Mann


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Putins Kriegsbotschafter
Alle reden über Melnyk – aber niemand über diesen Mann


18.05.2022Lesedauer: 4 Min.
Sergei Netschajew bei der Feier zum "Tag des Sieges" in Berlin: Der russische Botschafter leugnete russische Angriffspläne und die Kriegsverbrechen von Butscha.Vergrößern des Bildes
Sergei Netschajew bei der Feier zum "Tag des Sieges" in Berlin: Der russische Botschafter leugnete russische Angriffspläne und die Kriegsverbrechen von Butscha. (Quelle: Metodi Popow/imago-images-bilder)

Die Kritik am ukrainischen Botschafter in Deutschland ist groß. Das ist auch deshalb irritierend, weil sich niemand über die Propaganda des russischen Chef-Diplomaten in Berlin empört.

Sergei Netschajew gilt als Mann guter Manieren, als studierter Germanist, der Fragen höflich beantwortet. Der russische Botschafter in Berlin wird deswegen seit Jahren gern von deutschen Medien befragt, wenn es um die großen Fragen deutsch-russischer Beziehungen geht. Er veröffentlicht Gastbeiträge und Kommentare. In früheren Jahren begleiteten ihn gern bundesdeutsche Politiker, wenn er ausgesprochen würdevoll am "Tag des Sieges" gen Ehrenmal in Berlin schritt, um des Endes des Zweiten Weltkriegs zu gedenken.

Kritik an Melnyk, Schweigen zu Netschajew

Doch die Zeiten haben sich geändert, nun für alle sichtbar. Der Staat, für den er auf deutschem Boden als Diplomat akkreditiert ist, überzieht die Ukraine mit einem Angriffskrieg, erschütternden Kriegsverbrechen und greift damit auch die europäische Friedensordnung an. Kein Tag vergeht, an dem die Propagandamedien des Kremls nicht auch Europa mit Aggression drohen – bis hin zu nuklearen Erstschlägen. Vielleicht sind die Interviews deswegen zuletzt etwas seltener geworden.

Seitdem steht nicht etwa Netschajew in der Kritik, sondern der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk. Manch deutscher Politiker insbesondere von SPD und Linken hält ihn für untragbar und würde ihn am liebsten vor die Tür setzen.

Mit deutlichen Forderungen nach Waffen und klaren Worten zur Verantwortung deutscher Parteien für die prekäre Sicherheitslage in Europa sorgt er für Unruhe, während der russische Botschafter den stillen Auftritt pflegt und dabei auf wenig Kritik stößt. Dabei hat er regelmäßig viel zu sagen.

"Wir planen keine Offensive"

Anfang Januar legte er beispielsweise im Interview mit n-tv Wert auf die Feststellung, dass 100.000 russische Soldaten ja gar nicht an der ukrainischen Grenze zusammengezogen seien, "sondern 300 bis 400 Kilometer davon entfernt". Russland habe "dem ukrainischen Volk nie gedroht". Der Fragesteller gestehe den baltischen Staaten "das Recht auf irgendwelche Garantien zu", dabei brauche vielmehr Russland Garantien. Ein geplanter Angriffskrieg wäre dieser Deutung zufolge eine ja beinahe böswillige Unterstellung.

Einen Tag vor Beginn der Invasion bezichtigte er den Westen eines "Informationsterrorismus", weil Politik und Öffentlichkeit den Beschwichtigungen aus dem Kreml nicht so recht Glauben schenkten. "Der Befehl an die Kommandeure, ihre Truppen – die eigentlich auf unserem Territorium stehen – in die Kasernen zurückzuverlegen, ist klar", sagte Netschajew der "Stuttgarter Zeitung". Schließlich stehe es "schwarz auf weiß" in den Vorschlägen an USA und Nato: "Wir wollen keinen Krieg, wir planen keine Offensive."

Wenige Stunden nach Veröffentlichung rollten russische Panzer über die Grenze und schlugen Raketen in der Ukraine ein und zeigten, wie wenig wert die Worte des Botschafters sind.

Desinformation aus der Botschaft

Doch das wollte Netschajew offenkundig nicht so recht dazu bewegen einzugestehen, dass er monatelang die Unwahrheit über die russischen Kriegspläne sagte – schließlich hatte er schon im vergangenen Jahr den Truppenabzug versprochen. Verständlich: Aus seiner Sicht ist es gar kein Krieg, sondern eine "militärische Sonderoperation", wie er Ende März in einem Kommentar auf der Seite der Russischen Botschaft klarmachte.

Im "westlichen Informationsraum" herrsche bezüglich der Sachlage "de facto ein Medientotalitarismus". In amerikanischen Laboren in der Ukraine habe "man schwerpunktmäßig die Besonderheiten der slawischen Gentypen [erforscht], um selektive biologische Waffen zu entwickeln". Diese Kriegsbegründung war leider eine gänzlich andere als die, die Russlands Präsident Wladimir Putin bei Angriffsbeginn in seiner Fernsehansprache darlegte.

Damals sagte Putin, er wolle den "Völkermord" in den umkämpften Ostgebieten der Ukraine beenden – der fand allerdings nie statt, wie Zahlen der OSZE schon damals zeigten. Als Beweis angeführte Massengräber entpuppten sich schnell als mehrere Jahre alte Gräber für Soldaten aus der Hochzeit der Kampfhandlungen.

Putin sprach der Ukraine damals in seiner Rede außerdem Staatlichkeit und Souveränität ab und gab als Kriegsziele die angebliche "Denazifizierung" und "Entmilitarisierung" des Staats aus. Angebliche Biolabore tauchten erst Wochen später in der Propaganda des Kremls auf. Und schnell griff Netschajew zu, um sie als Kriegsgrund anzuführen.

Schuld am Angriffskrieg? Die Europäische Union

Unwahrheit und Desinformation aus der Feder eines angesehenen Diplomaten? Aus Sicht der Botschaft sicher nicht. Die bestritt nämlich in einer öffentlichen Einlassung, dass die Botschaft sich in innere Angelegenheiten der Bundesrepublik einmische und an "der Verbreitung von Desinformation und Propaganda beteiligt" sei. Die Rechnung hatte sie ohne ihr Außenministerium gemacht, dessen Erklärung sie wenige Tage vorher verbreitete.

Darin schieben die Diplomaten der Europäischen Union die Schuld am Angriffskrieg zu, den Russland auf ukrainischem Boden führt. Sie sei durch ihre anschließende Unterstützung der Ukraine "zu einem militarisierten und aggressiven Instrument der äußeren Expansion" entartet und setze einen jahrhundertealten "Drang nach Osten" um. "So realisiert man im Westen sein Ansinnen, uneingeschränkt und global über alle zu dominieren, die man für genetisch unterlegen hält."

Die Massaker von Butscha? "Eine Inszenierung"

Dass Netschajew selbst die Positionen seines Ministeriums offenbar uneingeschränkt mitträgt, machte er wenig später hinsichtlich der mittlerweile gut dokumentierten Kriegsverbrechen russischer Truppen im verwüsteten Butscha deutlich. Dort ermordeten Soldaten offenbar systematisch Zivilisten. Der "Märkischen Oderzeitung" gab der Botschafter ein Interview, in dem er behauptete, die Gräueltaten an Zivilisten seien gestellt. Das entspricht der offiziellen Linie des Kremls.

Wohlgemerkt: Es geht um rund 1.000 Menschen, die nachweislich vorher im Ort und seiner Umgebung gelebt haben. Die "BBC" hat zuletzt einige der Tatorte aufgesucht und mit Zeugen gesprochen. Es finden sich Blutspuren und Einschusslöcher. Ermordete wurden von Familie und Nachbarn identifiziert. Einwohner schildern Erschießungen auf offener Straße. Massengräber wurden entdeckt.

"Als unsere Soldaten am 30. März 2022 aus Butscha abgezogen sind, gab es diese Leichen dort noch nicht", zitierte die Zeitung Netschajew dazu. "Und wir haben Zeugen, die sagen, dass alles erst einen Tag später inszeniert worden ist." Die Leichen seien "extra hergeholt" worden. "Wir gehen davon aus, dass dies eine Inszenierung war."

Es sind womöglich Sätze wie diese, die die "Märkische Oderzeitung" veranlassten, dem Interview eine redaktionelle Anmerkung voranzustellen: "Wir halten es für geboten, die russische Seite mit Fragen und offenkundigen Fakten zu konfrontieren, wohl wissend, dass die Antworten zu großen Teilen russische Propaganda wiedergeben und nach übereinstimmenden Erkenntnissen internationaler Beobachter nicht der Wahrheit entsprechen."

Sprich: Botschafter Netschajew täuscht die deutsche Öffentlichkeit seit Monaten über den Angriffskrieg und die von Russland begangenen Kriegsverbrechen. Der öffentliche Aufschrei darüber hält sich bislang in Grenzen. Zu sehr waren deutsche Politiker und Intellektuelle offenbar darüber erschrocken, dass ein ukrainischer Botschafter deutliche Worte findet.

Verwendete Quellen
  • Stuttgarter Zeitung: "Wir planen keine Offensive" (Bezahlschranke)
  • Russische Botschaft: Kommentar des russischen Botschafters in Deutschland Sergej Netschajew zur Lage in der Ukraine
  • Russische Botschaft: "Erklärung des russischen Außenministeriums zu den Aussagen des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, im Anschluss an dessen Besuch in der Ukraine"
  • Märkische Oderzeitung: "Wir haben nicht vor, die Ukraine zu besetzen"
  • Russische Botschaft: "Kommentar der Russischen Botschaft in Deutschland" (russisch)coremedia:///cap/blob/content/92208904#imageData
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