Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Sahra Wagenknecht Aus der Zeit gefallen
An Sahra Wagenknecht zieht die Entwicklung der Gesellschaft offenbar vorbei. Während die Linken-Politikerin von "Lifestyle-Linken" schreibt, ist sie zwischen den Achtzigern und Neunzigern steckengeblieben.
In den sozialen Medien gehört es für viele Privatleute zum guten Ton, bei religiösen Anlässen ihre christlichen, jüdischen oder muslimischen Freundinnen und Freunden zu grüßen. So dieser Tage zum Ramadanauftakt. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel oder der Zentralrat der Juden, der FC Liverpool oder der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen tun es seit einiger Zeit. Das wird gerade von jüngeren Musliminnen und Muslimen gebührend gewürdigt. "Habibi Merkel", kommentieren sie auf Instagram: "Ehrenfrau", "Ich küss dein Herz", "Danke, liebe Kanzlerin". Zehntausenden gefallen diese Kommentare und Danksagungen.
Glückwünsche zum Ramadan von Politik und Prominenz signalisieren Wertschätzung, Anerkennung, Respekt und senden die Botschaft aus: "Wir nehmen euch wahr. Ihr seid ein Teil unserer Gesellschaft." Das ist ein Schritt hin zur Normalität, nachdem die Weltreligion Islam zwei Jahrzehnte lang der Hetze aus allen Richtungen ausgesetzt war, die die berechtigte Kritik an den Missständen in den muslimischen Gemeinschaften so oft überlagert und so viele (muslimisierte) Menschen in großes Leid gestürzt hat.
Sahra Wagenknecht ist keine Rassistin
Vom Ziel Normalität sind wir allerdings noch weit entfernt. Das zeigen jene, die sich mit ihrem ätzenden islamfeindlichen Hass auf solche Ramadan-Grüße stürzen wie Motten in das Licht, und jene, bei denen die Realität der Moderne noch nicht angekommen zu sein scheint – wie bei Sahra Wagenknecht, Galionsfigur der Linkspartei, Ex-Bundestags-Fraktionschefin und Buchautorin.
Selbstverständlich ist Sahra Wagenknecht keine Rassistin. Sie trägt, denke ich, nicht wesentlich mehr Vorurteile in sich, als wir alle es für gewöhnlich tun. Ihre Äußerungen gegen Diskriminierung von Minderheiten wirken auf mich authentisch. Sie weiß, wovon sie spricht. Die Tochter eines Iraners erzählte dem Zeit-Magazin 2017 über ihre Kindheit in der DDR: "Ich sah fremdländisch aus. Da gab es immer wieder unschöne Erlebnisse, Kinder, die mich gehänselt haben: 'Wie sieht denn die aus?'– 'Kommst du aus China?'"
Aus der Zeit gefallen
Sahra Wagenknecht scheint mir vielmehr aus der Zeit gefallen zu sein. Es wirkt, als wäre sie irgendwo zwischen den Achtzigern und frühen Neunzigern stecken geblieben. Sie versteht sich als traditionelle Linke; als konservative Linke, wenn man so will. Geboren und sozialisiert im "Arbeiter- und Bauernstaat", dreht sich bis heute alles bei ihr um die Arbeiterklasse. Arbeiterinnen und Arbeiter machen gegenwärtig noch ein Viertel aller Erwerbstätigen im produzierenden Gewerbe aus.
Ihre Zahl ist über die Jahrzehnte massiv geschrumpft. 75 Prozent ernährt der Dienstleistungssektor, rund ein Prozent die Landwirtschaft. Am höchsten ist der Arbeiteranteil laut Rosa-Luxemburg-Stiftung in Wagenknechts alter Heimat Thüringen mit 35,9 Prozent, gefolgt von Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt mit etwas unter 30 Prozent. Sahra Wagenknecht weiß offenbar nicht mehr so genau, wo die deutsche Gesellschaft im 21. Jahrhundert steht. Das zeigte schon ihre Bewegung "Aufstehen" von 2018, bei der die meisten von Anfang an einfach sitzen geblieben sind.
Gesellschaftlicher Wandel ist an ihr vorbeigegangen
In ihrer Fixierung auf Arbeiter richtet die 51-Jährige ihre Ansprache primär an Bundesbürger ohne Zuwanderungsgeschichte. Arbeiter, die seit Mitte der 50er eingewandert sind, so wie meine Eltern, die als "Gastarbeiter" den Rücken krumm gemacht haben, hat sie nicht im Blick. Sie adressiert sie jedenfalls mit ihrer Wortwahl nicht, obwohl bereits mehr als 26 Prozent aller Arbeiter einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Der gesellschaftliche Wandel ist augenscheinlich an ihr vorbeigegangen.
Bei mir rufen Sahra Wagenknechts Äußerungen Gedanken an Sozialismus und Nationalismus hervor. Über diese Kombination muss man sich nicht wundern, sozialistisches und nationalistisches Denken passten schon früher gut zusammen – spätestens seit Friedrich Naumann. 1896 hatte der Pfarrer und Publizist den "Nationalsozialen Verein" gegründet. Mit Ansätzen von gestern jedoch, die an nationalstaatliche oder sogar völkische Einstellungen anknüpfen und letztlich gute Lebensbedingungen primär für deutsche Arbeiter ohne Migrationshintergrund suchen, lässt sich in einer modernen Einwanderungs- und Dienstleistungsgesellschaft der Europäischen Union, eingebettet in globalisierte Strukturen, kein großartiger politischer Erfolg mehr erzielen.
Wagenknechts Buch wird keinen besonderen Einfluss haben
Sahra Wagenknechts Buch "Die Selbstgerechten", das sie diese Woche vorgestellt hat und das ihre Ideen zusammenfasst, wird daher keinen besonderen Impact haben. Schon gar nicht wird es dafür sorgen, "dass die Linke wieder mehr Rückhalt gewinnt", wie sie hofft. Im Gegenteil. Ihre Überlegungen spalten die Linke, und wer sich in Teilen der Republik als Volkspartei begreift, darf nicht einmal daran denken, sich in so eine politische Nische zu begeben.
- Kolumne: Lanz raubt mir den letzten Nerv
Die klassischen Arbeiter sind über die Jahrzehnte des Strukturwandels selbst zur Minderheit geworden und haben sich von SPD und Linken abgekoppelt. Die meisten fühlen sich bei anderen Parteien besser aufgehoben – und das gilt nicht nur für die AfD; vor allem CDU/CSU und die Grünen formulieren selbstverständlich ebenfalls Angebote an Arbeiter. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg wurde die AfD unter ihnen zwar die stärkste Kraft, die Linke jedoch rangierte auf dem letzten Platz. Mit mageren drei Prozent. Sogar noch deutlich hinter der FDP. Ein ähnliches Bild für die Linke ergibt sich in Rheinland-Pfalz.
Flirt mit dem Rechtspopulismus
Es ist wichtig, sich für Arbeiter, Beschäftigte im Niedriglohnsektor und Arbeitslose in Deutschland politisch zu engagieren. Darüber hinaus fühlen sich benachteiligte Deutsche ohne sogenannten Migrationshintergrund nach meinen Beobachtungen zu Recht häufig übergangen und in ihren Nöten, Ängsten und Sorgen alleingelassen. Das müssen sich alle Parteien selbstkritisch vorhalten. Diese Gruppen brauchen eine politische Vertretung. Dass sich Sahra Wagenknecht für sie einsetzt, ist also gut und richtig.
Diejenigen, die vorgeben, besonders viel für sie tun zu wollen, flirten jedoch zu oft mit dem Rechtspopulismus und versuchen, selbst Krakeeler bei ihren wütenden Tiraden und ausgrenzenden Äußerungen noch abzuholen. Das gilt auch für Sahra Wagenknecht. Sie argumentiert mit rechten Reizthemen und nutzt Sprachcodes von AfD und Co. Sie ruft das Feindbild "alter weißer Mann" auf, feuert Polemiken gegen das Gendern ab, bemüht den Vorwurf der "Nazi-Keule", redet Alltagsrassismus klein und kritisiert Identitätspolitik, indem sie bereits marginalisierte Gruppen noch weiter verächtlich macht.
Wagenknecht setzte sich als Spitzenkandidatin durch
Letzteres führte am Wochenende beim Landesparteitag der Linken in NRW dazu, dass die 20-jährige Genossin Hannah Harhues kurzfristig gegen sie antrat: "Ich stehe hier", sagte Harhues, "und kandidiere auf Platz 1, weil ich es nicht akzeptiere, als queere Person von Sahra Wagenknecht in ihrem Buch als Teil einer 'skurrilen Minderheit' mit 'Marotten' beleidigt zu werden." Am Ende setzte sich Sahra Wagenknecht gegen sie und Angela Bankert mit mageren 61 Prozent als Spitzenkandidatin durch.
Ihr Vorgehen und ihre Absicht, der neuen "Arbeiterpartei" AfD Wähler abzujagen, tauchen zudem ihre Auseinandersetzungen mit dem Thema Zuwanderung in ein braunes Licht. Dazu tragen ihre Schmähungen anderer Linker des Weiteren bei. Sie spricht davon, dass die vermeintlich linken Eliten auf Menschen herabsehen würden, die "nie eine Universität besuchen konnten, eher im kleinstädtischen Umfeld leben und die Zutaten für ihren Grillabend schon deshalb bei Aldi holen, weil das Geld bis zum Monatsende reichen muss."
Auftreten der Linken-Politikerin ist seit Jahren auffällig
Dabei geht es hier in der Regel um die Herabsetzung von rassistischen und antidemokratischen Haltungen pseudobesorgter Bürger: "Faschisten hören niemals auf, Faschisten zu sein. Man diskutiert mit ihnen nicht, hat die Geschichte gezeigt", fasst der Rapper "Danger Dan" (Antilopen Gang) auf seinem derzeit vieldiskutierten Klavieralbum "Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt" ganz treffend zusammen. Bei Sahra Wagenknecht heißt es dagegen beschönigend über pegidaeske Gruppen, dass sie "zuweilen härter oder grimmiger wirken und schlechter gelaunt sind", weil sie viel härter um ihr bisschen Wohlstand kämpfen müssten. Als könnte das Anfeindungen gegen Minderheitengruppen rechtfertigen?!
Das Auftreten der Linken-Politikerin ist seit Jahren derart auffällig, dass sie sich vor Avancen Rechter und ihrer Gewährsleute kaum retten kann und sich immer wieder genötigt sieht, Umarmungsversuche der AfD abzuwehren. Dass das ausgerechnet eine führende Politikerin einer Partei betrifft, die von diesen Umarmern sonst als SED-Nachfolgepartei und linksradikaler Haufen beschimpft wird, ist mehr als bemerkenswert. Das rückgratlose Instrumentalisieren von Sahra Wagenknecht ist so durchschaubar wie armselig.
Sie macht sich zum Problem für progressive politische Bündnisse
Die politischen Botschaften der AfD sind offenkundig so schlecht, dass selbst eine verhasste Gegnerin benötigt wird, um sie unters Volk zu bringen. Als Waffe gegen Vielfalt und Gleichberechtigung ist alles und jeder willkommen. So wie früher soll es sein, mit "Cancel Culture" für die lästigen Minderheiten. Um sich davon loszusagen, reichen Distanzierungsäußerungen nicht aus, hier müsste Sahra Wagenknecht mit substanziellem Handeln reagieren.
An einigen Stellen ihrer Analysen liegt sie gar nicht falsch und an anderen produziert sie durchaus diskussionswürdige Thesen. Man könnte sich an ihrer Grundthese, dass Linke bisweilen selbstgerecht, überheblich und weltfremd agierten, weshalb sie sie abschätzig als "Lifestyle-Linke" bezeichnet, durchaus selbstkritisch abarbeiten, wenn da nicht der ganze Ballast wäre. Indem sie ihren Cocktail unnötigerweise mit Gendern, Migration, Integration etc. zusammenrührt, was besser getrennt voneinander diskutiert werden sollte, umgarnt sie eindeutig Gruppen, die sich demokratischen Grundgedanken verweigern. Damit stellt sie sich nicht nur selbst ins Abseits, es macht sie auch zum Problem für progressive politische Bündnisse.
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Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen und ist Kandidatin der Grünen für den Bundestag. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.