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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Morddrohungen und Anschläge Auf der Spur der letzten linken Stadtguerilla
Ermittler jagen seit Jahren die "Revolutionären Aktionszellen", die mit Brandsätzen und Drohbriefen Angst und Schrecken verbreiten. Nun sind zwei Verdächtige gefasst. Sie stammen aus der Kommunalpolitik.
Eine Patrone per Post – ein "Weihnachtspräsent". Ein Sprengsatz vor der Tür – eine "Signalsetzung". Solche Dinge liest, wer die Bekennerschreiben und Drohungen der "Revolutionären Aktionszellen" durchforstet. Sie tauchen auf, wenn wieder Brandsätze in der Nacht zündeten, die Drohbriefe erreichen Politiker, Staatsanwälte und Behörden. Die "RAZ" sind, so sehen sie sich selbst, die letzten militanten Kämpfer für den Kommunismus in Deutschland. Ihre bevorzugte Methode: das "Modell Gasaki" aus Gaskartuschen – ein im Duktus der Gruppe "kombinierter Brand-/Sprengsatz niedriger Intensität".
In der Tradition der RAF
Nun haben Ermittler einmal mehr eine Spur zu den Überbleibseln der linken Stadtguerrilleros, die sich in ihren Schreiben gern mit Namen von RAF-Terroristen schmücken. Zu lesen ist dann von der "Zelle Gudrun Ensslin", vom "Genossen Wolfgang Grams". In welcher Tradition sich die Gruppe sieht, daraus macht sie keinen Hehl – auch wenn sie sich aus taktischen Gründen dazu bekannt hat, keine Gewalt gegen Personen anwenden zu wollen.
Am Freitagmorgen um 6 Uhr rückte Polizei zur Razzia in Berlin und Stuttgart aus. Ziel der Beamten war ein Paar, für das zu diesem Zeitpunkt bereits ein Haftbefehl vorlag: die Frau 39, der Mann 38 Jahre alt. Widerstandslos ließen sie sich laut Informationen von t-online in einer Berliner Wohnung festnehmen. In Stuttgart, wo sie zuvor wohnhaft waren, wurden drei weitere Wohnungen und ein Büro durchsucht. Sichergestellt wurden digitale Datenträger und schriftliche Unterlagen. "Erfolgreich" seien die Durchsuchungen gewesen, heißt es seitens der Ermittler.
Fleischfabrikant Tönnies war ein Ziel
Die beiden Beschuldigten sollen die Urheber der letzten Drohserie seit Dezember 2019 sein, die sich nicht nur gegen zahlreiche prominente Politiker wie Herbert Reul und Joachim Hermann richtete. Vor der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg soll das Paar das "Modell Gasaki" sogar zum Einsatz gebracht haben. Nur, weil der Sprengsatz nicht zündete wie geplant, sei kein großer Brand ausgebrochen. Vor der Villa des Fleischfabrikanten Clemens Tönnies sollen sie zudem Materialien für einen Brandsatz abgestellt haben, so der Verdacht bisher.
Ein wenig Skepsis ist angebracht: Seit Jahrzehnten laufen immer wieder Verfahren gegen Verdächtige, die den "RAZ" oder ihrer Vorgängerorganisation "Militante Gruppe" zugeordnet werden – und nicht immer bewiesen Ermittler dabei eine glückliche Hand. Vielleicht sind sie auch deswegen vorsichtig, sich zur Motivlage der nun festgenommenen mutmaßlichen Täter und ihrer möglichen Einbindung in eine Gruppenstruktur zu äußern.
Aktiv in der Kommunalpolitik
"Bislang", sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft Stuttgart, die die Ermittlungen vom Generalbundesanwalt übernommen hat, "gibt es keine Hinweise auf einen Zusammenhang mit früheren Anschlägen und Drohschreiben." Es gebe bis dato auch keine Bezüge zu linken Szeneprojekten, wie das in der Vergangenheit der Fall war. Die beiden Beschuldigten seien nie als Linksextremisten auffällig geworden.
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Stattdessen sind beide laut einem Bericht des "Spiegel" in der linken Kommunalpolitik in und um Stuttgart engagiert. Die Staatsanwaltschaft bestätigte t-online, das durchsuchte Büro stehe im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Mannes als stellvertretender Bezirksbeirat für ein Fraktionsbündnis von vier kleinen linken Parteien. Ein Sprecher dort sagte t-online, man habe den 38-Jährigen seit Monaten nicht gesehen. Auch per Handy sei er nicht zu erreichen. "Wir möchten, dass er zurücktritt, wir brauchen schließlich einen stellvertretenden Bezirksbeirat."
"Modell Gasaki" vor dem Haus der Wirtschaft
Dass bislang keine Bezüge zu früheren Anschlägen festgestellt wurden, ist zumindest überraschend: Denn bereits 2013 rückten Hunderte Beamte zur Razzia in Stuttgart, Berlin und Magdeburg aus. Der Verdacht: Bildung einer kriminellen Vereinigung. Vorausgegangen waren bis 2011 zahlreiche Brandanschläge und Drohbriefe. Der damalige stellvertretende Generalbundesanwalt Rainer Griesbaum hatte einen Brief mit Patrone erhalten, auch der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich. Sprengsätze des "Modells Gasaki" waren vor dem Haus der Wirtschaft in Berlin explodiert ebenso wie vor einem Amtsgericht und weiteren Behörden.
"Diese Aktion betrachten wir als einen Ausdruck der Stärkung der militanten Seite des sozial-revolutionären Widerstandes gegen den von Staat und Kapital vorangetriebenen Klassenkampf von oben", hieß es beispielsweise zum Anschlag auf das Haus der Wirtschaft im Bekennerschreiben der Gruppe. Erschienen war es in der Szene-Zeitschrift "radikal", deren Herausgeber dann auch in den Fokus der Ermittlungen rückten.
Spuren zu Linksradikalen mit RAF-Bezügen
Die Behörden verorteten die Verdächtigen im Umfeld linksradikaler Projekte: Mindestens zwei der insgesamt neun Beschuldigten arbeiteten an einer im Zuge des RAF-Hungerstreiks 1989 entstandenen Gefangenenzeitschrift mit, die heute als Postadresse einen Szeneladen in Neukölln nutzt. Von dort führten auch Spuren ins Umfeld eines linken Zentrums an der Alexander-Puschkin-Straße in Magdeburg. Mehrere Beschuldigte standen in Verbindung mit einem Zusammenschluss linker Initiativen namens "Zusammen kämpfen" aus Magdeburg, Stuttgart und Berlin.
Doch die Ermittlungen scheiterten weitflächig: Übrig blieb eine einzige Anklage gegen ein mutmaßliches Mitglied der "RAZ" – wegen drei Brandstiftungen in Berlin: am Haus der Wirtschaft, an der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und am Amtsgericht Wedding. Und auch über die Zulassung dieser Anklage aus dem September 2018 hat das Landgericht Berlin bis heute nicht entschieden.
Verurteilungen und rechtswidrige Überwachung
Das war nicht der erste Rückschlag für die Behörden im Ermittlungskomplex. Bevor die erste Anschlagsserie der "Revolutionären Aktionszellen" begonnen hatte, standen 2009 bereits mehrere Männer als Mitglieder der "militanten gruppe" (mg) vor Gericht, die als Vorgängerorganisation gilt. Drei Männer wurden zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Sie waren 2006 auf frischer Tat dabei ertappt worden, als sie Bundeswehrfahrzeuge anzündeten. Die Gruppe hatte – genau wie die RAZ später – Drohbriefe mit Munition verschickt, sie bekannte sich zu über 20 Anschlägen.
Doch auch dieser erste Schlag blieb nicht als großer Ermittlungsfolg der Behörden in Erinnerung. Er wurde danach vor allem mit maßlosen Ermittlungsmethoden verbunden: Unschuldige waren jahrelang engmaschig überwacht worden – unter anderem der Soziologe Andrej Holm, später kurzzeitig Staatssekretär des rot-rot-grünen Senats in Berlin.
Gruppe oder Trittbrettfahrer?
Der Bundesgerichtshof erklärte deswegen zahlreiche der Ermittlungen im Nachhinein für rechtswidrig. Und auch der ursprünglich gegen die Angeklagten formulierte Terrorismusverdacht hielt der rechtlichen Prüfung nicht stand. Ihre Taten seien "nach der Art ihrer Begehung" nicht geeignet gewesen, "die Bundesrepublik Deutschland im Sinne des Gesetzes erheblich zu schädigen". Deswegen wurde die "mg" nur als kriminelle Vereinigung gewertet, wie im Folgenden auch die "RAZ".
Sind die Ermittler aufgrund dieser Erfahrungen so zurückhaltend in ihrer öffentlichen Bewertung der Vorgänge? Oder finden die erneuten Ermittlungen nur zufällig wieder in Stuttgart und Berlin statt?
Zumindest derzeit steht nicht der Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung zur Debatte. Stattdessen ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart nun aufgrund der Drohschreiben wegen versuchter Nötigung, aufgrund des Anschlags in Nürnberg wegen Brandstiftung und aufgrund des Brandsatzes an der Tönnies-Villa wegen Verabredung zu einem Verbrechen der schweren Brandstiftung.
Dort seien in einiger Entfernung zum Haus die Materialien für einen Brandsatz fein säuberlich nebeneinander aufgereiht gewesen, sagte ein Sprecher des Generalbundesanwalts t-online. Das Bekennerschreiben sei einen Tag später eingegangen. Ob die Beschuldigten tatsächlich dafür verantwortlich waren, müssen nun die Ermittlungen ergeben. Vielleicht wird dann auch klar, ob tatsächlich weit verzweigte "Revolutionäre Aktionszellen" Drohbriefe verschickten und Brandsätze platzierten. Oder ob die angebliche Stadtguerilla lediglich aus zwei Kommunalpolitikern aus Stuttgart besteht.
- Eigene Recherchen