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Deutschland: Darum brauchen wir das generelle kommunale Ausländerwahlrecht


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Wahlreform
Darum brauchen wir das generelle kommunale Ausländerwahlrecht

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 17.09.2020Lesedauer: 4 Min.
Wähler stehen für die Stimmabgabe zur Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen an: Die Wahlen müssten grundlegend reformiert werden, meint Lamya Kaddor.Vergrößern des Bildes
Wähler stehen für die Stimmabgabe zur Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen an: Die Wahlen müssten grundlegend reformiert werden, meint Lamya Kaddor. (Quelle: Reichwein/imago-images-bilder)

Bei Kommunalwahlen wie zuletzt in Nordrhein-Westfalen wird ein großer Teil der Bevölkerung ausgeschlossen. Das muss sich ändern. Menschen mit Migrationsgeschichte brauchen angemessene politische Repräsentation.

Mein Kommunalwahl-Erlebnis am vergangenen Sonntag begann mit einer Irritation. Während der große, blonde Mann mit schwarzer Lederjacke und graublaugrünen Augen vor mir dem netten Wahlhelfer in meinem kleinen Duisburger Wahllokal freundlich seine Wahlbenachrichtigung reichte, zog ich zwei davon aus der Tasche. Wieso zwei? Etwa eine der berüchtigten Wahlpannen? Eine derer, die es in der mittlerweile so eingespielten deutschen Demokratie eigentlich nicht geben sollte?

Nein. "Die zweite ist für die Wahl zum Integrationsrat", erklärte mir der Wahlhelfer. Hm. Aha. Ok. "Aber wieso krieg nur ich eine und der Mann dort nicht?", fragte ich zurück. Beredtes Schweigen. Der freundliche Wahlhelfer wiegte sein Haupt von rechts nach links, betrachtete kritisch den Rest meines Kopfes, der nicht von der Corona-Maske verdeckt wurde, und sagte dann: "Wer im Ausland geboren ist, darf wählen." "Hallo. Wer ist hier im Ausland geboren? Ich?" "Ähm. Oder wer einen Elternteil hat, der im Ausland geboren wurde", schob er rasch hinterher.

Integrationsräte sind ein überholtes Konzept

Ich darf also den Integrationsrat wählen, der Mann vor mir nicht. Weil meine Eltern nahe Aleppo geboren wurden und die des Mannes im Lahntal beziehungsweise am Niederrhein. Warum? Sollen sich etwa die Mitglieder des Integrationsrats in sich selbst oder mit sich selbst integrieren? Oder sollen sie nicht vielmehr mit der Mehrheitsgesellschaft zusammenwachsen? Und wenn ja, warum darf dann dieser Mann nicht mitwählen, wo ihn das doch genauso betreffen würde?

Irgendwie werfen Integrationsräte heutzutage mehr Fragen auf als Antworten zu liefern. Vielleicht ist das ein Grund für die geringe Wahlbeteiligung. In Duisburg lag sie bei mageren 17 Prozent, in Düsseldorf bei nur 8. Das nennt man gemeinhin einen Flopp.

Integrationsräte sind ein überholtes Konzept. Sie spiegeln die Vorstellungen der Ausländerpolitik in den 1970er- und 80er-Jahren wider. Sie sind stigmatisierend und drücken Menschen einen Stempel auf: Ihr seid "die Anderen" und: Ihr dürft nur am Katzentisch Platz nehmen. Sie sind ein Feigenblatt, mit dem Kommunalpolitik vorgibt, etwas für Ausländer*innen zu tun, dabei beruht ihre Daseinsberechtigung auf beratender Funktion, sprich: Integrationsräte sind am Ende machtlos. Sie sind also kaum mehr als ein Instrument, um "Ausländer*innen" billig abzuspeisen und politisch klein zu halten.

Kommunalwahlen müssen reformiert werden

Inzwischen sind aber mehr als 20 Prozent der Einwohner*innen etwa von Duisburg Ausländer*innen, hinzu kommen mehr als 21 Prozent Deutsche mit einem sogenannten Migrationshintergrund. Nimmt man nur die unter-21-jährigen Duisburger, gehört bereits etwa jeder Zweite zu einer der beiden Gruppen.

Die Kommunalwahlen müssen grundlegend reformiert werden. Die Repräsentanz von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sollte durch die Kommunalwahl selbst sichergestellt werden, nicht nur durch ein Anhängsel, das de facto ausgrenzt, keine gestalterischen Befugnisse hat und offenkundig bei denen, die angesprochenen werden sollen, bloß auf geringes Interesse stößt. Integrationsräte gehören somit abgeschafft.

Das Thema betrifft Mehrheitsgesellschaft und Zuwanderergruppen gleichermaßen. Alle müssen hier mitreden können. Die Aufgaben von Integrationsräten sollten daher auf die Stadt- und Gemeinderäte übergehen. Ausländer*innen und Menschen mit Migrationshintergrund sind in die Parteien und behördlichen Strukturen zu integrieren.

Wir sollten alle gemeinsam beschließen

Einer aktuellen Recherche des Mediendiensts Integration zufolge haben gerade einmal sechs von 335 Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern in Deutschland einen Migrationshintergrund. Das entspricht nicht mal zwei Prozent, und unter ihnen ist keine einzige Frau.

Ausländer*innen in unserer globalisierten Welt sollten sich nicht mehr durch Beiräte in Nischen drängen lassen. Auf kommunaler Ebene brauchen sie das Wahlrecht. Der Lebensmittelpunkt einer jeden und eines jeden ist für gewöhnlich in einer Kommune. Damit sind alle Menschen von dem, was Kommunalpolitik bestimmen kann, gleichsam tangiert. Menschen mögen keine Deutschen sein wollen oder sein dürfen (je nachdem, wen man fragt), gewiss aber sind sie mit einem dauerhaften Wohnsitz alle Duisburger, Kölner, Düsseldorfer, Ahlener, Harsewinkeler oder was auch immer. Wir leben alle gemeinsam in einer Kommune, wir sollten alle gemeinsam beschließen.

Wir brauchen das generelle kommunale Ausländerwahlrecht

Politisch diskutieren kann man darüber, wie lange jemand seinen Lebensmittelpunkt in einer Kommune haben muss, um zur Wahl zugelassen zu werden: ein Jahr, zwei Jahre oder mehr? Oder ob es der Hauptwohnsitz sein muss oder ob ein Nebenwohnsitz reicht? Die Reduzierung des Wahlalters auf 16 Jahre war ein erster – einst ebenfalls umstrittener – Schritt zur besseren Integration der Stadtbevölkerung. Der nächste Schritt muss das generelle kommunale Ausländerwahlrecht sein – ohne Beschränkung auf die Europäische Union.

SPD, Grüne und Piratenpartei hatten 2017 in Nordrhein-Westfalen einen Vorstoß für eine entsprechende Änderung der Landesverfassung gemacht. Ihr Gesetzentwurf scheiterte an den anderen Parteien. Deshalb: Wiedervorlage dringend erwünscht. Wie gut das werden kann, zeigt Mecklenburg-Vorpommern. In Rostock ist der Däne Claus Ruhe Madsen 2019 zum Oberbürgermeister gewählt worden, der erste ausländische in Deutschland. Und wer hat ihn unterstützt? CDU und FDP.

Eine Schande für die Demokratie

Sollte das kommunale Ausländerwahlrecht dereinst kommen, geht damit eine hohe Verpflichtung für Ausländer*innen einher. Einer meiner türkischstämmigen Facebook-Freunde ärgerte sich über die geringe Wahlbeteiligung von rund 50 Prozent. Er zog auch einen Vergleich zu deutschtürkischen Doppelstaatler*innen und den jüngsten Wahlen in der Türkei.

Dabei kritisierte er, dass Wähler dort mehr als 50 Kilometer mit dem Auto fahren, um für ihre Wahlheimat ihre Stimme abzugeben, aber keine 200 Meter zur Wahlurne laufen, um einen Kandidaten in ihrer deutschen Heimatstadt zu wählen. Jeden Tag redeten sie über die Politik in einem Land, in dem sie nur vier Wochen im Jahr sind, doch die Politik in der Stadt, in der sie ihr ganzes Leben verbringen, interessiert sie kaum: "Schade für die Demokratie!", so mein Facebook-Freund.

Dem kann ich nichts hinzufügen – außer vielleicht beim Wort "Schade" ein "n": Es ist eine Schande für die Demokratie, wenn Menschen von ihrem demokratischen Wahlrecht keinen Gebrauch machen, während sich andere so ein Recht sehnlichst wünschen.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Muslimisch und liberal!" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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