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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ausbilder über Polizeigewalt "Kollegen öffentlich zu kritisieren, ist eine Todsünde"
Seit einigen Wochen verbreiten sich Videos gewaltsamer Polizeieinsätze. Kritiker beanstanden, dass viele Fälle nicht aufgeklärt werden. Ist die Polizei außer Kontrolle geraten? Ein Polizeiwissenschaftler klärt auf.
Eine Gruppe Polizisten, die einen Jugendlichen in Hamburg umzingelt und schlägt, ein Beamter, der auf dem Kopf eines am Boden Liegenden kniet oder ein Polizist, der einen bereits Festgenommenen in den Leib tritt – diese Eindrücke, geteilt in kurzen Videoclips, vermitteln den Eindruck gehäufter unkontrollierter Polizeigewalt in Deutschland.
Doch wieso scheinen ausgebildete Polizisten immer wieder aus ihrer professionellen Rolle zu geraten? Und dürfen sie überhaupt diese gewaltsamen Maßnahmen anwenden? t-online.de hat mit dem Polizeiwissenschaftler Rafael Behr gesprochen – und Überraschendes erfahren.
t-online.de: Herr Behr, wie schätzen Sie es ein, dass in letzter Zeit viele Videos aufgetaucht sind, die gewaltsame Polizeieinsätze zeigen und die Diskussion um Polizeigewalt angeregt haben?
Rafael Behr: Es gibt gerade – entfacht durch den Tod von George Floyd – eine allgemeine Sensibilität gegenüber Polizeigewalt. Gleichzeitig ist es nicht immer einfach mit den vielen Experten, die zu den Videoclips ihre Kommentare abgeben – und die sind auch nicht immer sachgerecht. Gleichwohl muss ich sagen: Je mehr Öffentlichkeit gegenüber staatlichen Interventionen existiert, desto eher lässt sich die Staatsgewalt auch kontrollieren.
Sie bewerten das Teilen solcher Videoclips also als positiv?
Ja. Ohne diese Möglichkeit des Hinterfragens hätten wir vielleicht irgendwann eine Polizei wie in Belarus. Dann wäre es ein anonymer Staatsapparat, der nur noch durch Gewalt zusammengehalten wird. Mit der Möglichkeit zu veröffentlichen und zu kommentieren, wird die Polizei gezwungen, ihr Verhalten zu reflektieren. Das halte ich für eine positive Erscheinung.
Können Außenstehende die Situationen in den Videos denn überhaupt realistisch einschätzen? Es handelt sich dabei schließlich nur um einen Ausschnitt einer Situation.
Zuspitzung und Verzerrung der Situationen findet im medialen Diskurs nun einmal statt. Ich kann Ausschnitte filmen und ins Netz stellen, wenn ich denke, dass sie verboten sind. Dabei wird aber niemand physisch verletzt. Die Debatte darüber schafft einfach die Aufmerksamkeit. Ich finde es tatsächlich manchmal ärgerlich, was kommentiert wird, aber halte es in keiner Weise für gefährlich im Sinne einer Verunmöglichung staatlicher Vollzugsmöglichkeit. Denn letztlich entscheiden Staatsanwalt und Richter, ob eine Handlung legal oder illegal war.
Was lief bei dem Einsatz in Hamburg falsch, bei dem eine große Gruppe Polizisten einen 15-Jährigen eingekreist hatten und es zur gewaltsamen Auseinandersetzung kam?
Das war ein für mein Empfinden relativ unsicherer und unkoordinierter Auftritt der Polizisten. Aber ich habe nichts von Polizeibrutalität gesehen. Ich vermute, dass die meisten dieser eingesetzten Beamten relativ jung waren. Es war eine unglückliche Situation, die eskaliert ist. Es war unklar, wer spricht, wer die Einsatzleitung hatte. In diesem Fall haben alle durcheinandergebrüllt, es war diffus. Und dadurch gerät man in eine Gewalteskalation, aus der man nicht mehr herauskommt.
Der Junge war erst 15 – spielt das Alter beim Umgang mit dem Täter keine Rolle?
Eine Person wird in erster Linie nach Kriterien der vermuteten Gefährlichkeit bewertet, nicht nach dem Alter. Wenn jemand 15 Jahre alt ist, aber 100 Kilo wiegt, 1,85 Meter groß ist und tänzelt wie ein Boxer, ist das Alter den Polizisten egal. Da ist die Person einfach gefährlich. Ob er Jugendlicher oder Kind ist, kommt erst bei der Ansprache zum Tragen.
Es scheint, als seien gewaltsame Zwangsmaßnahmen oft die Lösung bei solchen Einsätzen …
Mit etwas mehr Erfahrung, Umsicht und Zuversicht hätte man auf den Jungen in Hamburg vielleicht zugehen können, aber das Risiko, dass es schiefgeht, ist enorm groß. Und dann steht niemand mehr hinter dem Beamten. Ich schlage meinen Studierenden oft vor, auch einmal etwas zu tun, was die Person nicht erwartet, um die Gewaltspirale zu unterbrechen. Aber sie machen das auf eigenes Risiko. Wenn es gut geht, werden sie gelobt, aber wenn nicht, haben sie unprofessionell gehandelt. Distanz halten wird gelehrt, Distanz unterschreiten geht nicht, Hand halten geht nicht, umarmen geht nicht, Nähe herstellen geht nicht, geduldig reden geht auch nicht. Wir müssen auf unsere Eigensicherung achten. Und wenn man in so einem Klima sozialisiert wird, ist klar, dass jemand, der Distanz unterschreitet, ein hohes Risiko trägt.
Sind die Beamten einem enormen Druck nicht nur seitens der Öffentlichkeit ausgesetzt?
Ja, die Beamten stehen unter Beobachtung der Kollegen. Wenn man da etwas tut, was unkonventionell und kreativ ist, muss man sich dafür verantworten. Das ist nicht ganz einfach. Die Polizisten stehen von vielen Seiten unter Druck. Sie können nichts richtig richtig machen. Aber sie können auch nichts richtig falsch machen, weil es immer Stimmen gibt, die ihnen beipflichten oder die sie kritisieren. Das zu akzeptieren und dagegen eine gewisse Widerstandskraft zu entwickeln, ist Aufgabe der Führungskräfte und der Ausbildung. Für die jungen Leute ist das erstmal schwer zu verarbeiten. Sie denken, sie machen einen guten Job und stehen eigentlich auf der richtigen Seite und dann schlägt ihnen die Kritik entgegen.
In Düsseldorf ist das Knie eines Beamten vom Kopf auf den Hals gerutscht. In Frankfurt hat ein Beamter einen bereits Festgenommenen, am Boden Liegenden getreten. Wie bewerten Sie diese Vorfälle?
Es gibt keine rein gute Gewalt in der Polizei, sondern sie ist immer bedroht von einer illegitimen Entgleisung. Das Knie auf dem Kopf ist eine Schulsituation. Das Knie rutscht aber jetzt ab und sitzt auf dem Kehlkopf oder dem Hals. Das ist die Phase, wo die Maßnahme illegitim wird. Der Polizist bleibt aber drauf, weil der Festgehaltene plötzlich ruhig ist, es offenbar Wirkung zeigt. Dabei begibt sich der Beamte von der Rechtmäßigkeit übergangslos in die Situation des Illegitimen. Wenn man Szenen von außen über Videos immer wieder anschauen kann, ist es leicht zu klassifizieren. Für die Polizisten ist es nicht immer so leicht.
Der Frankfurter Vorfall war ein anderer. Da war auch für die beteiligten Beamten gleich klar, dass der Tritt des Kollegen zu viel war. Das war ein klar abgegrenzter Übergriff. Aber ich sehe im ganzen Unglück auch einen positiven Aspekt: Die Polizisten hatten in dieser Situation die Courage, den Kollegen zu bremsen. Das zeigt, dass eben nicht immer alle unter einer Decke stecken. Die Polizei ist keine Schlägerbande.
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Aber wie kann es einem professionell ausgebildeten Polizisten passieren, dass er aus seiner Rolle ausbricht und einen am Boden Liegenden noch einmal tritt?
Solche gewalttätigen Festnahmen sind immer mit Emotionen und viel Adrenalin verbunden. Da entstehen auch Rachegelüste oder Bestrafungsphantasien. Einige Polizisten haben sich dann nicht mehr im Griff und treten aus Wut nach. Ich erinnere mich an einen Fall aus dem Jahr 2011: Da hat ein älterer Polizist eine festgenommene Person ins Gesicht geschlagen, weil er dachte, diese habe vorher eine Kollegin verletzt. Das war Körperverletzung im Amt. Ganz klar. Ein Kollege hat ihn dann angezeigt und der Beamte wurde verurteilt. Aber die meisten Fälle werden nicht aufgeklärt.
Wieso werden die meisten Fälle nicht aufgeklärt?
Es gibt den sogenannten "Code of Silence". So nennt man das in der Polizeiwissenschaft, wenn sich Kollegen nicht gegenseitig anzeigen, sondern diese Fälle stillschweigend dulden. In Frankfurt hat man die Situation sofort unterbrochen und öffentlich gezeigt, dass man damit nicht einverstanden ist. Das halte ich für ein positives Signal für die deutsche Polizei. Es ist für viele Kollegen eine Schmach, und die Leute, die da interveniert haben, werden vermutlich nicht von allen als Helden gefeiert. Sie gelten in der kollegialen Wahrnehmung womöglich als Verräter, als diejenigen, die Kollegen an den Galgen liefern. Kollegen öffentlich zu sanktionieren oder zu kritisieren ist in der "Cop Culture" eine Todsünde und verpönt. Aber sie haben es gemacht und das zeigt auch, dass sich in der Kultur eventuell etwas ändert.
Rafael Behr, Jahrgang 1958, ist Professor für Polizeiwissenschaften. Er lehrt Kriminologie und Soziologie am Fachhochschulbereich der Akademie der Polizei in Hamburg. Außerdem leitet er die Forschungsstelle Kultur und Sicherheit. Von 1975 bis 1990 arbeitete Behr als Polizeibeamter bei der hessischen Bereitschaftspolizei sowie im Polizeipräsidium in Frankfurt am Main.
Was genau?
Dieses Mal gehen sie vielleicht doch mit gestärktem Gefühl raus. Endlich sind wir in der Lage, der Öffentlichkeit zu zeigen, was wir unter professioneller Polizeiarbeit verstehen, dass wir uns nicht verstecken. In den Neunziger Jahren ist einer bei der hessischen Polizei, der die Kollegen angezeigt hat, als Kameradenschwein vom Platz gejagt worden. Sie sind sehr hart gewesen. Nicht die schlimme Tat, sondern der Verrat dieser Tat wird sanktioniert. Möglicherweise ist das jetzt der Ausdruck davon, dass sich Polizisten nicht immer decken. Das wäre ein positives Zeichen.
Kann die Polizei denn solche Videoaufnahmen generell für sich nutzen?
Ich wäre froh, wenn die Polizei die Größe hätte, die Videos zum Anlass zu nehmen für neue Trainingseinheiten. Die jungen Polizisten aus Hamburg zum Beispiel könnten schauen, wie ein Profi mit so etwas umgeht, was sie hätten besser machen können. Im Sinne einer Lehrstunde, die in dem Fall mit einem Negativbeispiel beginnt. Diese Videos werden aber auch deshalb so emotionalisiert, weil die Öffentlichkeit weder Erfahrung im Umgang mit konkreter physischer Gewalt noch ein realistisches Bild des Polizeialltags hat.
Wie meinen Sie das?
Die Öffentlichkeit delegiert das Thema "Umgang mit Gewalt" natürlicherweise an die Polizei – oder sie sieht sie in Spielfilmen. Wir haben so immer nur die Kulisse aus dem Fernsehen vor Augen. Da geht alles ganz schnell. Zwei oder drei gezielte Schläge und am Schluss geht die Polizei als Sieger hervor. In Wirklichkeit sieht das anders aus. Wie sich ein Faustschlag ins Gesicht wirklich anfühlt, wissen die allermeisten von uns doch gar nicht.
Wie sieht dann das realistische Bild der Polizeiarbeit in solch einer Situation aus?
Es ist nicht einfach zu vermitteln, dass bei Festnahmen oder anderen Einsätzen der Polizei auch Blut fließt, dass man ins Schwitzen gerät, dass man Hilfe braucht von Kollegen. Auch, dass man Leute zu Boden ringen muss und dabei selbst mit zu Boden fällt, dass man plötzlich im Ringkampf ist und nicht in der überlegenen Position. Dann ruft man um Hilfe, es kommen zwei, drei, vier andere und plötzlich stehen da zwölf Polizisten und fragen sich "Was machen wir jetzt?" Es ist nicht so leicht, wie im Film dargestellt. Und in den Hochglanzbroschüren der Polizei kommt diese Form von unmittelbarer Gewalt nicht vor. Aber das ist der realistische Polizistenalltag. Aber generell ist der Polizei relativ viel erlaubt, solange sie in einer offenen Interventionssituation ist.
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Was ist der Polizei denn nicht erlaubt?
Also erstens gibt es den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wonach zuerst das mildeste Mittel anzuwenden ist und dann erst Steigerungsformen. Zweitens: Sobald ein Mensch in der Obhut des Staates ist, darf ihm keine Gewalt mehr angetan werden – außer es entsteht eine Notsituation. Das Problem dabei ist, dass die ganze emotionale Aufladung dann immer noch in den Polizisten ist. Wenn du gerade jemanden festgenommen hast, der dich bedroht hat, spürst du diese Energie noch. Da muss man schon sehr professionell geübt sein, um dann Schluss zu machen. Spezialkräfte üben das bis zum Abwinken, bei den einfachen Polizisten ist es nicht ganz so leicht. Im Überschwang der Gefühle, wie Wut, Stress, Hass, kann es zu einem spontanen Gewaltrausch kommen. Das geht auch an Polizisten nicht spurlos vorbei.
Was könnte man tun, um diese Gefühle besser zu kontrollieren?
Ich fordere zum Beispiel, dass junge Polizisten nach der Ausbildung noch ein bis zwei Jahre permanente psychosoziale Begleitung erhalten. Sie sollten regelmäßig befragt werden, wie ihre Einstellung ist, was ihnen besonders schwerfällt, was Freude macht. Aber das geschieht nicht. Wir haben keine psychosoziale Begleitung bei der Polizei. Das ist etwas, an das wir denken müssten, wenn wir den Menschen Unterstützung anbieten wollen. Unterstützung heißt nicht, ihnen mehr Waffen zu geben oder mehr Möglichkeiten, Schmerz zuzufügen, sondern sie zu stabilisieren, diesen Stress und diese Belastung auszuhalten.
Herr Behr, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Rafael Behr