Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Pisa-Studie Das Bildungssystem muss sich radikal ändern
Nach dem schlechten Abschneiden Deutschlands bei der Pisa-Studie glauben manche: Daran sind die Flüchtlinge seit 2015 schuld. Doch das Problem liegt woanders, glaubt unsere Kolumnistin Lamya Kaddor.
Jeder fünfte 15-Jährige in Deutschland ist nicht in der Lage, einfache Texte zu verstehen. Das geht aus der aktuellen Pisa-Studie hervor. Schuld daran seien die vielen Geflüchteten, die ab 2015 gekommen sind, ohne sie stünde Deutschland viel besser da, fantasierte jüngst die "Bild"-Zeitung. Muss die Migration also wieder mal als "Mutter aller Probleme" herhalten?
Das ist nicht nur falsch, sondern verantwortungslos. Es geht nicht darum, gänzlich von der Hand zu weisen, dass der Zuzug von Geflüchteten die Situation an den Schulen verkompliziert hat. Diesen Faktor jedoch in den Mittelpunkt zu rücken, ist unsachgemäß. Solche Versuche entlasten lediglich die wahren Verantwortlichen. Doch dazu später.
Versagen der Schulen bei ihrem Kernauftrag
Die zentralen Befunde von Pisa- und anderen Bildungsstudien sind seit Jahrzehnten bekannt: Es gelingt nicht, Chancengleichheit herzustellen. Bildungserfolg ist nach wie vor zu stark vom sozioökonomischen Status der Eltern abhängig und Kinder mit Migrationshintergrund werden grundsätzlich stärker benachteiligt im Schulsystem. In Dauerschleife werden diese Probleme benannt, nur dagegen getan wird zu wenig. So versagen Deutschlands Schulen weiterhin bei ihrem Kernauftrag: alle Kinder zu einem jeweils optimalen Bildungsgrad zu führen.
Das Versagen liegt jedoch weniger an inkompetenten Lehrerinnen und Lehrern, weniger an zu vielen Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, weniger an der Frage der richtigen oder falschen Schulformen und Bildungskonzepten. Der zentrale Faktor ist gegenwärtig der Personalstand. In den Mittelpunkt der Bildungsdebatten gehört der eklatante Mangel an Lehrerinnen und Lehrern. Die besten Strategien taugen nichts, wenn sie niemand umsetzen kann.
Konzepte und Vorstellungen aus den 80er-Jahren
Also einfach abwarten, bis wieder genügend Lehrkräfte da sind? So einfach ist es leider nicht. Strukturell haben sich die Rahmenbedingungen geändert. Deutschland muss Bildungskonzepte für seine Einwanderungsgesellschaft etablieren. Seit Jahren wird auf die zunehmende Heterogenität in den Klassen hingewiesen, wobei es mehr um Milieus geht und weniger um Schichten oder Ethnien. Doch an der Basis kommt das zu selten an.
Jüngst habe ich Rektorinnen und Rektoren von Gymnasien weitergebildet. Für mich war es erschreckend zu erleben, dass ausgerechnet einzelne von ihnen scheinbar immer noch nach Konzepten und Vorstellungen aus den 80er-Jahren handeln. Sie zeigten sich nicht willens oder nicht in der Lage, Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, die nicht ihren Vorstellungen von „normalen“ deutschen Schülerinnen und Schülern entsprechen, auch nur wahrzunehmen.
Das Kernproblem: Es gibt zu wenige Lehrer
Lehrkräfte müssen in der Ausbildung mit neuen pädagogischen Konzepten intensiv darauf vorbereitet werden, mit Kindern unterschiedlichsten kulturellen, religiösen, sozioökonomischen, biografischen und körperlichen Voraussetzungen zu tun zu haben. Nötig wäre zudem eine Ausweitung von Differenzierungskursen und eine Verstetigung dieser Angebote. Es reicht nicht aus, Schüler mit Defiziten ein Jahr lang zusätzlich zu fördern und die Förderung dann auslaufen zu lassen. Es kann ebenso wenig sein, dass vor solch diversen Schulklassen nur eine Lehrkraft steht. Die Herausforderungen lassen sich nur mit sogenanntem Teamteaching – mit mindestens zwei Lehrerinnen pro Klassen – bewältigen. Doch wie oft findet Teamteaching statt?
Genau. Viel zu selten. Damit sind wir wieder beim Kernproblem: Es gibt zu wenig Lehrer. Doch genau der Punkt ist in der Pisa-Debatte kaum zu hören. Stattdessen werden Ablenkungsmanöver gestartet: In vielen Familien mit ausländischer Herkunft würde kein Deutsch gesprochen, heißt es etwa. Bei mir zuhause wurde auch kein Deutsch gesprochen. Längst zeigen Studien, zu Hause anstatt der Muttersprache gebrochenes Deutsch zu sprechen, ist nicht gerade hilfreich. Bloß: Wen interessieren wahre Fakten, wenn sich die eigene Klientel mit „alternativen Fakten“ besser umgarnen lässt?
Versagen der Schulen ist das Versagen der Politik
Der Lehrermangel kann nicht sofort behoben werden. Es fehlen schlicht die Aspiranten. Mit diesem Hinweis jedoch darf man sich nicht abspeisen lassen. Schon 2003 gab die Kultusministerkonferenz in einer Bedarfsanalyse erste Hinweise, dass alsbald Lehrkräfte fehlen werden; also lange bevor „die vielen Geflüchteten“ kamen. In den Folgejahren wurde die Dramatik des Problems immer wieder betont. Doch die Politik reagierte entweder gar nicht oder nur halbherzig, stets gab es für sie Wichtigeres zu tun. So kamen statt ausreichend Lehrkräfte nur zusätzliche Aufgaben wie die Inklusion an die Schulen. Das Versagen der Schulen ist das Versagen der Politik.
Bildung wird von Parteien und Regierungen trotz aller weihevollen Worten immer nur stiefmütterlich behandelt. Richtig laut wird es allenfalls dann, wenn es um die politische Macht der Länder geht wie beim Widerstand im Bundesrat gegen den "Digitalpakt Schule" vor einem Jahr oder gegenwärtig beim Scheitern des Nationalen Bildungsrats.
Investitionen in die Bildung müssen steigen
Politik darf sich beim Thema Bildung keinen schlanken Fuß machen. Bildung ist in Deutschland nicht nur eine Holschuld von Schülerinnen und Schülern beziehungsweise deren Eltern. Bildung ist auch eine Bringschuld des Staates. Wir haben schließlich Schulpflicht und unser Bildungssystem gründet auf Regelschulen, nicht auf Privat- oder Alternativschulen. Zudem sind wir besonders stolz auf die Kulturhoheit der Bundesländer. Die Politik muss folglich liefern.
Die Bildungsausgaben hierzulande lagen 2016 bei 4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und damit deutlich unter den Aufwendungen etwa in den erfolgreichen skandinavischen Ländern (ungefähr sieben bis acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts), dabei kostet Bildung gerade dort, wo Diversität so ausgeprägt ist wie bei uns, viel mehr Geld. Die Investitionen in die Bildung müssen steigen. Der Lehrerberuf muss durch bessere Bezahlungen und bessere Arbeitsumstände attraktiver gemacht werden.
Löcher werden nur notdürftig gestopft
Der massive Lehrermangel dieser Tage ist ein gutes Beispiel dafür, dass bloß von Legislaturperiode zu Legislaturperiode gedacht wird. Langfristige Planungen, für die beim nächsten Urnengang vermeintlich zu wenig Stimmen winken, werden von den Parteien gemieden. Da setzen sie lieber auf Symbolpolitik wie Deutschlandfahnen vor Schulen oder Kopftuch-Verbote, und wenn die öffentliche Aufmerksamkeit für ein Thema gerade mal Konjunktur hat, versuchen sie rasch ein paar Löcher notdürftig zu stopfen, um ein Zeichen zu setzen.
Nachhaltig ist anders, und das gilt auch für andere Bereiche. Ob beim Klimaschutz oder bei der Verkehrswende: Überall hinken wir hinterher. Ferner herrschen Facharbeitermangel und Pflegenotstand und weil nicht rechtzeitig gehandelt wurde, sollen es Menschen aus dem Ausland richten, über deren Integration anschließend die Nase gerümpft wird.
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Wir, die Bürgerinnen und Bürger sollten der Politik das nicht durchgehen zu lassen. Bildung ist das Stammkapital unserer Gesellschaft. Bildung ist für die meisten Probleme in diesem Land zentraler Bestandteil der Lösungen. Mit der Bildung haben wir eine "dea ex machina", eine Maschinengöttin, aber die Politik weigert sich, ihr die Hauptrolle zu geben. Das ist die wahre Tragödie.
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.