Sorge wegen Krieg in Syrien Zahl islamistischer Gefährder sinkt
Berlin (dpa) - Die Polizei stuft inzwischen deutlich weniger Islamisten als "Gefährder" ein als noch vor einem halben Jahr. Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Grünen-Anfrage hervorgeht, hatten die Polizeibehörden am 25. September bundesweit 688 sogenannte Gefährder auf dem Schirm.
Im März hatten sie noch 748 Menschen so eingestuft. Als Gefährder bezeichnet man im Bereich der politisch motivierten Kriminalität Menschen, denen man schwere Gewalttaten bis hin zu Terroranschlägen zutraut.
Aus Sicht der Behörden gibt der Trend noch keinen Anlass für Entwarnung. Aus Sicherheitskreisen hieß es, "gerade wegen der aktuellen Entwicklung in Nordsyrien" wäre es jetzt voreilig, die Zahl der Beamten zu reduzieren, die sich mit dem radikalen Islamismus beschäftigen.
Zu den 688 aktuellen "Gefährdern" gehören nach Angaben des Innenministeriums 108 Menschen, zu denen "Erkenntnisse über eine Rückkehr aus dem syrisch-irakischen Konfliktgebiet" vorliegen. Wie viele der aus Deutschland stammenden IS-Kämpfer die türkische Militäroffensive in den vergangenen Tagen zur Flucht aus Haftanstalten und Lagern in Nordsyrien genutzt haben, ist unbekannt. Die Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und ihre Angehörigen waren zuletzt in Lagern festgehalten worden, die von kurdischen Gruppen kontrolliert wurden.
Ein weiteres potenzielles Risiko: Bei einigen "Gefährdern", die in Deutschland verurteilt wurden, steht in absehbarer Zeit eine Haftentlassung an. Von den 774 Menschen, die am 24. Juli vergangenen Jahres im Bereich des islamistischen Terrorismus als "Gefährder" eingestuft waren, hielten sich 450 in Deutschland auf. 170 "Gefährder" saßen damals hierzulande eine Haftstrafe ab.
Die innenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Irene Mihalic, sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Es wäre gefährlich, wenn sich die Bundesregierung von den stark sinkenden Gefährderzahlen im Bereich des Islamismus blenden ließe." Wenn deutsche IS-Kämpfer aus den Lagern nun "ungeordnet nach Europa und Deutschland zurückkehren, ist das eine bedrohliche Situation", fügte sie hinzu.
Die Bundesregierung müsse erklären, wie sie mit diesen Risiken umgehen wolle. "Statt alle Hebel in Bewegung zu setzen, die mutmaßlichen Kämpfer kontrolliert der Strafverfolgung in Deutschland zuzuführen, hat die Bundesregierung darauf gesetzt, dass sich die Probleme von selbst erledigen."
Die syrischen Kurden hatten Deutschland und andere europäische Staaten mehrfach aufgefordert, ihre Staatsangehörigen zurückzuholen, die sich in Syrien dem IS angeschlossen haben. Nach Regierungsangaben waren Ende September 111 aus Deutschland ausgereiste Islamisten in Syrien in Haft.
Die Bundesregierung hat bisher nur die Rückreise einiger Kinder organisiert. Aus dem Auswärtigen Amt hieß es dazu im Sommer, man prüfe Optionen, um deutschen Staatsangehörigen, insbesondere Kindern, in humanitären Fällen Unterstützung zu einer Rückkehr nach Deutschland zu leisten. Hierbei erfolge immer eine Prüfung des jeweiligen Einzelfalls.
Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte, zuerst müsse die Identität jedes Einzelnen zweifelsfrei geprüft werden. Außerdem müsse klar sein, "welche Maßnahmen sich gegebenenfalls im Inland anschließen könnten".
Zu den standardisierten Bewertungskriterien der Polizei bei der Risikoeinschätzung zu einzelnen Islamisten gehören unter anderem "Umgang mit Waffen und Waffenaffinität", "krisenhafte, soziale und psychische Auffälligkeiten" und "Ausreiseaktivitäten in Kriegs- und Krisengebiete". Im Jahr 2018 waren 52 "Gefährder" aus Deutschland abgeschoben worden.
Neben den "Gefährdern" schaut die Polizei auch auf "relevante Personen". Zu diesem Personenkreis zählt, wer in der Szene als "Führungsperson", als "Akteur" oder als Logistiker und Unterstützer agiert. Außerdem müssen "objektive Hinweise vorliegen, die die Prognose zulassen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung" verüben werden.
Auch Kontakt- oder Begleitpersonen eines "Gefährders" oder eines Verdächtigen gehören zu dieser Gruppe. Als "relevante Personen" führte die Polizei im September 501 Menschen. Im vergangenen März hatten die Sicherheitsbehörden 485 Menschen zu dieser Gruppe gezählt.
Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) sieht Deutschland in der Pflicht, deutsche IS-Anhänger wieder aufzunehmen. "Es gehört aus meiner Sicht zur Glaubwürdigkeit des deutschen Rechtsstaates, dass wir Straftäter in einem ordentlichen Gerichtsverfahren hier in Deutschland verurteilen", sagte er "Spiegel Online".
Politisch wolle niemand IS-Anhänger zurücknehmen, rechtlich bestehe bei deutschen Staatsangehörigen aber die Verpflichtung. "Immerhin verlangen wir ja auch von anderen Staaten die Rücknahme, wenn wir ihre Staatsangehörigen abschieben." Bund und Länder müssen laut Pistorius bestmöglich darauf vorbereitet sein, da die Sicherheit der Bevölkerung oberste Priorität haben müsse.