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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Klartext für Politiker Jetzt reden die Bürger
Deutschland feiert 70 Jahre Grundgesetz – und Bundespräsident und Kanzlerin hören einfach Bürgern zu. Wie ist das gelungen?
Normalerweise kümmert sich Richard Gugg darum, dass Stahl nicht rostet. Als Werksleiter eines Unternehmens im niederbayerischen Plattling. Er fing klein an, erzählt der 54-Jährige, arbeitete sich hoch, heute ist er Handswerksmeister im Maschinenbau, Metallgießen, Metallformen und Glockengießen. Und eben Werksleiter, mit 90 Mitarbeitern, für die er verantwortlich ist.
Jetzt steht er im Garten des Schlosses Bellevue, am Sitz des Bundespräsidenten, der repräsentativsten Ort des Landes. Die deutsche Flagge weht, die Europafahne weht. Und Richard Gugg soll gleich mit anderen Gästen diskutieren, was er so denkt über Deutschland, über Probleme und Herausforderungen.
Mehr als 200 Menschen hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eingeladen, um das 70-jährige Bestehen des Grundgesetzes zu feiern. Aus dem ganzen Land, 15 Jahre bis 85 Jahre alt – auch eine Spanne von 70 Jahren. Regionalzeitungen aus allen Bundesländern haben sie ausgesucht, so wie Richard Gugg, bei ihm war es die "Passauer Neue Presse". Andere haben sich direkt an den Bundespräsidenten gewandt.
Kaffeetafel mit den höchsten Vertretern des Staates
Im Garten des Schlosses sind 22 Kaffeetische aufgebaut, mit Sonnenschirmen, Himbeeren und Kuchen, Kaffee und Milch. Das Bundespräsidialamt hat solche Formate schon häufiger veranstaltet, aber diesmal sind die höchsten Vertreter des Staates gekommen: Steinmeier selbst, Angela Merkel, die Bundeskanzlerin, der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der Bundesratspräsident Daniel Günther, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle. Sie alle werden später an den Tischen sitzen, zuhören, sprechen, diskutieren.
Man könnte 70 Jahre Grundgesetz mit einem pompösen Festakt feiern, mit staatstragenden Reden und viel Schulterklopfen. Aber das scheint nicht in eine Zeit zu passen, in der zumindest der Verdacht verbreitet ist, die Menschen seien erzürnt, enttäuscht vom Staat und seinen Politikern. Eine Zeit, in der die Mächtigen lieber mal nachdenklich und zugewandt den Kopf auf die Hand stützen als mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. "Im Grundgesetz steht nicht Alles Gute kommt von Oben, sondern Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", sagt Steinmeier in seiner Rede.
Von einem Volke, das sich in Schale geschmissen hat, Anzug und Kleid, einmal Kopftuch, gedeckte Farben, das Türkis der Kanzlerin strahlt auffallend. Von einem Volke applaudiert, als Steinmeier zu Beginn seiner Rede sagt: "Dieses Grundgesetz, diese gut 20.000 Worte, sie sind allemal ein Grund zum Feiern." Irgendwo müssen auch Leute sein, die eingeladen wurden, weil sie zornig sind. Das Bundespräsidialamt sagt, die gebe es. Sie fallen aber nicht auf. Wut geht von diesem Volke keine aus, nicht einmal Verstimmtheit. Aber Fragen gehen vom Volke aus.
Wut geht von diesem Volke keine aus – aber es hat Fragen
Richard Gugg ist gekommen, um zu erzählen, dass viele seiner Mitarbeiter aus dem EU-Ausland kommen und dass einige von ihnen in anonymen Mitarbeiterbefragungen angeben, sie fühlten sich insgesamt nicht genauso geachtet wie die Deutschen. Wie kann man das ändern, möchte er wissen?
Marina Berg, 21, ist gekommen um zu erzählen, dass man für die Ausbildung zur Psychotherapeutin viel Geld bezahlen muss und dass die Universität Saarbrücken unterfinanziert sei. Wie kann das sein, fragt sie?
Camilo Berstecher, 30 Jahre alt, Dokumentarfilmer, geboren in Kolumbien, seit zehn Jahren in Deutschland, mittlerweile deutscher Staatsbürger, ist gekommen, um zu erzählen, wie er als Au-Pair in einer Familie mit vier Kindern das Land kennengelernt hat, "Nutella und Kika". Er will erzählen, dass gut ausgebildete Freunde von ihm wieder weggeschickt wurden. Braucht die hier niemand, fragt er?
Die Kaffeetafel ist für diese Art von Selbstbefragung ein passendes Format – gerade nicht hip, sogar fast etwas aus der Zeit gefallen, so bundesrepublikanisch wie sonst nur Loriot, draußen nur Kännchen, selbst im Schloss Bellevue. "Sprechen Sie an Ihrer Kaffeetafel frei von der Leber weg", sagt Steinmeier. Er gratuliert den drei Menschen, die an diesem Tag auch 70 werden namentlich in seiner Rede.
Aber Steinmeier belässt es nicht nur bei Betulichkeit. Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was du für dein Land tun kannst – das sagte John F. Kennedy bei seiner Antrittsrede als US-Präsident 1961. Steinmeier formuliert es so: "Lasst uns diskutieren. Nicht darüber, was die Demokratie uns antut, sondern was wir an ihr und in ihr tun können." An dieser Stelle weicht er leicht vom Manuskript ab, in dem nur "an ihr" steht, und so klingt es doch ein bisschen sakral: Durch ihn und mit ihm und in ihm, heißt es in der katholischen Liturgie. Jetzt: An ihr und in ihr.
Verantwortung tragen nicht nur Medien
Verantwortung, sagt Steinmeier, trügen nicht nur Politiker und Medien. Jeder trage sie. "Zusammenhalt lässt sich nicht verordnen. Zusammen hält, wer zusammen tut." Das Grundgesetz enthalte die Botschaft: "Zieh Dich nicht zurück und übernimm Verantwortung."
Als Steinmeier mit seiner Rede fertig ist und die Gäste zu den Tischen gehen, sagt eine Frau: "Ich fühle mich richtig aufgewertet."
Dann wird gesprochen. Über den Osten, und die niedrigen Renten dort. Über Solidarität und den Diesel, über die AfD und die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Gestritten wird nicht, oder kaum, erzählen rund ein Dutzend Teilnehmer. Gut zwei Stunden lang, in der Sonne, zwischendurch werden die Sonnenschirme aufgespannt, am Ende wird viel gelacht.
Danach stehen die Gäste noch zusammen. Machen Fotos mit Steinmeier, sehr viele Fotos. Und unterhalten sich.
Marina Berg, die 21-jährige Psychologiestudentin sagt, sie habe verstanden, dass für einen Versicherungsmakler ihre Probleme nicht so wichtig seien wie für sie. Camilo Berstecher, der 30-jährige Filmemacher, sagt, Merkel habe auf seine Frage nach seinen Freunden, die gingen, gesagt, sie sei traurig, wenn sie höre, dass sich Leute nicht willkommen fühlten, die hier studiert haben. Richard Gugg, der 54-jährige Werksleiter aus Niederbayern sagt, Merkel habe auf seine Frage nach den Mitarbeitern aus der EU, die nicht vergessen werden dürften, geantwortet, dass jede Seite schauen muss, wie man das umsetzt.
Sind das richtige Antworten, echte Antworten, präzise Antworten? Spielt das eine Rolle? Oder geht es am Ende doch vor allem um das Hiersein und das Reden an sich?
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Marina Berg sagt: "Es hat meinen Horizont erweitert, auch wenn das jetzt romantisch verklärt klingt." Camilo Berstecher sagt: "Wir haben gemerkt, dass wir mehr sprechen müssen." Richard Gugg sagt: "Man sieht, dass jeder seinen Teil beitragen will. Das macht Mut für die Zukunft."
Angela Merkel sagte übrigens: "Das war eine schöne Kaffeetafel."
- Eigene Recherche