Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Spenden für Notre-Dame Was ist mehr wert – ein Mensch oder eine Kathedrale?
Um Notre-Dame trauern Menschen weltweit und spenden Hunderte Millionen Euro für den Wiederaufbau. Ertrinkende im Mittelmeer können auf weniger Hilfe hoffen. Ist das gerecht?
Was ist mehr wert? Ein Menschenleben oder eine Jahrhunderte alte Kathedrale? Nach dem Brand von Notre-Dame werden solche Fragen vielfach aufgeworfen. In Syrien sind tausende Kinder gestorben, aber in Europa weint niemand um sie. Im Mittelmeer ertrinken jeden Tag Menschen, aber in Europa weint niemand um sie. In Mossul wurde die Moschee zerstört, aber in Europa weint niemand um sie. Aber wenn ein altes Gemäuer in Paris abbrennt ist, sind alle tief betroffen und trauern um Steine. Doppelmoral, schreien sie.
Katastrophe globalen Ausmaßes
Ich meine: Das sind völlig unzulässige Vergleiche. Für jeden Angehörigen ist der Tod eines geliebten Menschen tausendfach schlimmer als der Brand von Notre-Dame, ein ferner Krieg oder sonst etwas Schlimmes. Aber wenn auf den Osterinseln ein mir völlig fremdes Kind bei einem Unfall stirbt, betrifft mich das emotional nicht. Ich erfahre nicht einmal davon. Ebenso betrifft es eine Rapanui nicht, wenn in Deutschland ein Kind bei einem Unfall stirbt. Glücklicherweise ist das so. Andernfalls wäre unser Dasein ein pausenloses Leidklagen – und das wäre noch zu wenig.
Notre-Dame ist ein Kulturgut – nicht nur für Frankreich, sondern für die ganze Menschheit. Es vereint Menschen und führt sie zusammen. Wer einmal in Notre-Dame stand, konnte Besucher aus aller Herren Länder treffen, darunter Atheisten, Christen, Muslime, Buddhisten, Hindus und andere. Paris ist ohne Notre-Dame genauso wenig denkbar, wie ohne Eiffelturm oder Arc de Triomphe. Wenn die Pyramiden von Kairo/Gizeh zerstört würden, wäre das auch eine Katastrophe globalen Ausmaßes.
Erbe unserer Existenz
Es gingen ein Stück Menschheitsgeschichte verloren. Ein Erbe unserer Existenz, das Generationen, Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende überdauert hat, das erzählt, woher wir kommen, wer wird sind, was wir zu leisten im Stande waren und vielleicht noch leisten werden. Selbstverständlich ist im Fall von Notre-Dame weltweite Betroffenheit völlig angemessen; sogar in Ländern wie im entfernten, buddhistischen Thailand war die Brandkatastrophe Aufmacher mit großen Fotos auf den Titelseiten.
Der Brand steht moralisch nicht gegen den Tod von Menschen, sondern er steht moralisch neben dem Tod von Menschen. Beides kann eine Tragödie sein – und je näher einem die Opfer oder die Zerstörung emotional stehen, desto schwerer ist es zu ertragen.
Als der Suq und die Umayyaden-Moschee in Aleppo durch den Krieg zerstört wurden, habe das keinen interessiert, sagte mir ein syrischer Bekannter, niemand habe darüber berichtet. Das stimmt so nicht. Die Zerstörung löste sehr wohl internationales Entsetzen aus, allerdings wurde in der Tat weniger darüber berichtet als über die jetzige Katastrophe in Paris. Betrachtet man die Tourismuszahlen, dann stellt man fest, dass Paris mit Bangkok und London die meistbesuchte Stadt der Welt ist. Aleppo kommt in dieser Liste erst weit hinten; was mit den politischen Zuständen, mit geographischer Nähe und sprachlichen Fähigkeiten zu tun hat.
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Wie viele Deutsche sprechen Arabisch und fliegen um die Welt? Wie viele Deutsche sprechen Französisch und fahren mit Auto oder der Bahn in Urlaub? Es gibt viel mehr Menschen, denen Notre-Dame nähersteht als Suq und Moschee. Folglich ist der Grad der öffentlichen Aufmerksamkeit nicht automatisch mit einer Missachtung anderer Kulturen gleichzusetzen. Schon nach den Terroranschlägen von Christchurch waren ähnliche, zumeist haltlose Vorwürfe gegen "den Westen" erhoben worden.
Und schließlich ist da noch das Thema Spendenbereitschaft: Binnen wenigen Tagen haben reiche Bürger hunderte Millionen Euro für "kaputte Steine" locker gemacht. Um Gelder für humanitäre Hilfen weltweit muss indes gebettelt werden. An diesem Argument ist auf den ersten Blick etwas dran. Größere Spendenbereitschaft für menschliches Leid wäre sicherlich wünschenswert. Bei genauerer Betrachtung muss man aber auch hier relativieren. Der Brand von Notre-Dame ist ein singuläres Ereignis. Mit Geld lässt sich der Schaden einigermaßen wieder beheben und ein Ende ist in Sicht.
- Pro & Kontra: Spenden für Notre-Dame – gerechtfertigt oder nicht?
- Held von Notre-Dame: Er rettete die Dornenkrone aus der Kathedrale
- Zwischentöne: Alle Kolumnen von Lamya Kaddor
Die humanitäre Hilfe dagegen ist tragischerweise ein Fass ohne Boden, eine fortwährende Aufgabe. Weltweit sind ununterbrochen hunderte Millionen Menschen vom Tod bedroht – durch Hunger, Krankheit, Kriege, Flucht und Vertreibung. Das Leid der Menschheit lässt sich nicht allein mit Spendengeldern beseitigen. Nötig wäre eine grundsätzliche Korrektur der internationalen Politik. Im Mittelmeer sterben die Menschen nicht, weil zu wenig Geld für Retter da ist, sondern primär, weil die EU sich nicht einigen kann, was sie mit den Geretteten machen soll.
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Sie ist Gründungsvorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes (LIB e.V.). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr neues Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.