Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Organisierte Kriminalität Migranten-Communitys sind im Kampf gegen Clans gefordert
Der Kampf gegen Clan-Kriminalität kommt spät – aber er kommt. Polizei und Justiz alleine können ihn nicht gewinnen. Auch die Communitys müssen helfen – nicht nur die arabischen.
Vielleicht muss man den Machern von "4Blocks" einmal explizit einen Dank ausrichten. Dem deutschen Serienerfolg um eine libanesische Großfamilie, die in Berlin Kriminalität organisiert, ist es womöglich mit zuzuschreiben, dass das, was gegenwärtig unter dem Schlagwort Clan-Kriminalität die Runde macht, plötzlich so große Aufmerksamkeit erfährt. Jedenfalls lässt es sich schwerlich erklären, warum das Phänomen erst jetzt die Höhen der Politik erreicht hat: In Nordrhein-Westfalen gab es dazu auf Initiative der schwarz-gelben Landesregierung in dieser Woche die erste größere Expertenkonferenz bundesweit.
Die Beschäftigung mit dem Thema ist überfällig. Lange überfällig. Genau gesagt mehrere Jahrzehnte lang überfällig, denn die Großfamilien, in deren Reihen ein auffällig hoher Anteil an Mitgliedern auffällig oft straffällig wird, leben zum Teil bereits in der dritten Generation in Deutschland; bei vielen von ihnen handelt es sich um Einwanderer und deren Nachkommen.
Die meisten sind nicht arabisch dominiert
Laut dem Bundeslagebild Organisierte Kriminalität von 2017 spielen allerdings nicht arabische Familien die prägende Rolle, wie es "4Blocks" und andere populäre Veröffentlichungen stets nahelegen. Die meisten Gruppierungen werden demnach von Personen deutscher Staatsangehörigkeit dominiert (168 Gruppierungen). Es folgen türkisch geprägte Gruppierungen (77), polnische, albanische, litauische, russische, italienische, nigerianische und bulgarische. Erst danach werden 14 libanesisch geprägte Gruppierungen aufgelistet.
Ein rasches Vorgehen gegen deren Machenschaften ist heutzutage nicht mehr möglich, da sich die Strukturen vieler Gruppierungen über die Jahrzehnte gefestigt haben. Aussichtslos ist der Kampf dennoch nicht. Neben staatlichen Repressionen durch Polizei und Justiz kommt es dabei insbesondere auf die jeweiligen Communities mit gleichem Migrationshintergrund an.
Bei Clan-Kriminalität geht es nicht immer um die großen, aufsehenerregenden Fälle rund um die Intensivtäter des Abou-Chaker-Clans, der Remmos, Miris oder aus "4Blocks". Clan-Kriminalität gibt es auch im Kleineren.
Clan-Kriminalität im Kleinen
In meiner Zeit als Islamlehrerin war ich des Öfteren damit konfrontiert. Ich hatte Schüler, deren Familien nach eigenem Bekunden im Rotlichtmilieu unterwegs waren. Wenn sie auf die Frage: "Was willst du später mal werden?", die Antwort gaben: "Zuhälter", hatte das mithin eine größere Dimension als bloßes pubertäres Gerede.
Die Wege, die schon vor Jahrzehnten in die Kriminalität führen konnten, sind zum Teil weiterhin vorhanden. Sie heißen Perspektivlosigkeit, Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft, Ausgrenzung, Benachteiligung in den Schulen, auf dem Arbeitsmarkt und so weiter.
Früher war die Lage lange Zeit sogar so, dass Flüchtlinge in Deutschland nicht arbeiten durften und einen unsicheren Aufenthaltsstatus hatten. Als Folge dieser Behinderung von Integration suchten sich manche illegale Einnahmequellen.
Da nach den Vorstellungen dieser "Fremden" die Einzigen, auf die man in solch prekären Situationen zählen kann, die eigenen Familienangehörigen oder andere Landsleute sind, gaben die Ältesten und Stärksten unter ihnen den Jüngeren und Schwächeren den Weg vor.
Ähnlich der islamistischen Radikalisierung
An dieser Stelle gibt es wichtige Überschneidungen zur Radikalisierung im Bereich Islamismus und Salafismus: Es kommt häufig auf das Umfeld an, das darüber entscheidet, ob ein Mensch in den politischen und religiösen Extremismus abrutscht oder eben in die organisierte Kriminalität.
Im Umkehrschluss aber hat das Umfeld damit ebenso die Möglichkeit, solche "Karrieren" zu verhindern oder zumindest zu erschweren. Jemand mit arabischem Migrationshintergrund kann mitunter effektiver auf Arabischstämmige einwirken, jemand mit polnischem Migrationshintergrund auf Polnischstämmige und so weiter.
Dabei kommt es auf jeden Einzelnen an, den Machenschaften der Clans etwas entgegenzustellen: Das muss kein offener Widerstand sein, der womöglich lebensgefährlich ist. Es kann allerdings das Vorleben anderer Lebenswege sein. Ein allgemeines Sensibilisieren für die Gefahren krimineller Karrieren. Es kann der Wegzug aus bestimmten Wohngebieten sein. Oder eine besonders schützende Zuwendung zu seinen Kindern, wenn man nicht umziehen kann. Es kann die Kooperation mit den deutschen Behörden anstelle falscher Nibelungentreue zu Menschen mit gleicher Herkunft sein.
Einige schädigen den Ruf aller
Clan-Kriminalität ist auch ein Problem all jener, die von der Öffentlichkeit zum Umfeld der jeweiligen Gruppierung gezählt werden. Einige Kriminelle schädigen den Ruf aller: So wie Islamisten das Leben von Menschen belasten, die als Muslime identifiziert werden, belasten kriminelle "Araber" das Leben derer, die als "Araber" konstruiert werden. So unfair das sein mag, es ist Realität, und darauf sollte man schon aus Eigeninteresse heraus reagieren.
Wie bei allen sozialen Fragen steht die Mehrheitsgesellschaft dabei nicht außen vor – schließlich ist sie einerseits von den Auswüchsen der Clan-Kriminalität ebenfalls betroffen und steckt andererseits den Rahmen für diese Entwicklungen ab. Neben dem Abbau struktureller Benachteiligungen von "Ausländern" sollten sich gesellschaftliche Kräfte primär um "Empowerment" bemühen, um die Stärkung jener Personen, die noch nicht in kriminelle oder extremistische Milieus abgerutscht sind; längst nicht alle Menschen, die den Namen Abou-Chaker, Remmo, Miri tragen, sind schließlich kriminell. Auf die Unbescholtenen kommt es an. Wenn es gelingt, ihnen einen Weg aus der Umklammerung ihrer Familien aufzuzeigen, könnte es mittel- und langfristig gelingen, zusammen mit den sicherheitspolitischen Maßnahmen die kriminellen Banden aufzulösen.
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Wie immer bei solchen Überlegungen sind Schulen, Jugendzentren oder Vereine einzubinden – insbesondere an den Hotspots der Clan-Kriminalität wie Berlin, Bremen oder Essen. Wer dort an Orten arbeitet, an denen junge Menschen anzutreffen sind, braucht die entsprechenden Mittel, um erkennen zu können, ob jemand in die Clan-Kriminalität abzurutschen droht, und um entsprechend handeln zu können. Genau das lehren die Erfahrungen aus der Präventionsarbeit gegen Islamismus und Salafismus.
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr neues Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.